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Ein fliehendes Pferd

Ein fliehendes Pferd

Titel: Ein fliehendes Pferd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser , Helmuth Kiesel
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Augen mit einer waagrechten Hand. Er spielte einen, der nicht Zeuge eines Unglücks werden will. Hel sagte – und streichelte ihren Klaus übertrieben mütterlich –, jetzt hätten Halms ihren Klaus aber arg beleidigt. Sie verfiel dabei völlig unvermittelt in ein groteskes Schwäbisch. Klaus fuhr auf und hielt sich beide Ohren zu. Hel steigerte den schwäbischen Groteskton noch, als sie mitteilte, es plage ihren Klaus so richtig, wenn sie seine Muttersprache nachahme. Klaus Buch sprang auf. Darauf sagte Hel in einem genau so grotesken Bairisch, Klaus sei ein spinnerter Hammel, er solle sich nicht so haben, wenn sie jetzt ein Piano hätte, hätte er seine Ruhe vor ihr. Bei ihrem Bairisch hatte ihr Gesicht, als verlange das die Sprache, einen bösen Ausdruck angenommen. Klaus stand jetzt vor ihr, als wolle er sie hypnotisieren. Sie sagte: Nicht diesen Blick, Junge! Und wischte ihm über die Augen. Klaus sagte: Du magst mich nicht mehr, gell. Sie küßte hin. Man konnte gehen.
    Die Buchs wollten Helmut und Sabine zu einem Tennisspiel überreden. Das wurde mit Erfolg abgewehrt. Gut, dann wandere man gemeinsam. Buchs seien um acht – um neun, rief Helmut schrill – bei Halms. Mit dem Wagen. Da Halms schon seit elf Jahren in die Gegend kämen, müßten sie Wandermöglichkeiten kennen, Helmut solle sich gefälligst etwas einfallen lassen über Nacht.
    Als Helmut hinter den wunderbar geraden Gittern ihrer Parterrewohnung lag, wurde er wieder froh. Zum Glück hatte Sabine gleich nach ihrem Wagner-Mein-Leben gegriffen. Zum Glück hatte sie keinen Versuch gemacht, ihn zu berühren. Er hoffte, sie liege so neben ihm wie er neben ihr. Das wäre eine Lebensleistung. Von beiden vollbracht. Wenn er sicher wäre, daß Sabine genau so weit war wie er, hätte er jetzt gesagt, wie angenehm es sei, in dieser isolierten Wohnung zu liegen. Er hätte gern ausgesprochen, wie entsetzlich es wäre, jetzt unter einem Dach mit den Buchs zu liegen. Dann hätte aber Sabine gefragt, warum. Dann wäre vielleicht herausgekommen,
    daß Sabine noch nicht so weit war wie er.
    Helmut dachte an eine Nacht vor zwölf Jahren: Während des letzten Urlaubs, den sie in Italien verbracht hatten. In einem Hotel in Grado. Sie wollten gerade zueinander, da hörte er aus dem Zimmer nebenan ein Geräusch, als schlüge ein riesiger Hammer auf ein Bett ein. Jeder Schlag ging deutlich durch die ganze Federung hindurch und endete hart. Das Erstaunliche bei diesem Geräusch war, angesichts der vermutbaren Wucht des Hammers, der da schlug, die rasche, wahnsinnig rasche Folge der Schläge. Helmut hatte sofort gespürt, daß er keinen eigenen Rhythmus finden würde, solang der da drüben so zuschlug. Er hatte bemerkt, daß Sabine auch nur noch hinüberhorchte. Sie mußte, mußte, mußte ihm das doch vorwerfen, daß er kein solcher Hammer war. Beide lagen und hörten nur noch, was ein Mann leisten kann. Helmut hätte das nicht für möglich gehalten. Sollte er die Schläge zählen? Ihm war zum Ersticken heiß. Er schämte sich entsetzlich. Er war im Unrecht. Der drüben war im Einvernehmen mit der Epoche. So muß man sich früher am Pranger gefühlt haben. Wer den Sexualitätsgeboten dieser Zeit und Gesellschaft nicht genügte, war praktisch ununterbrochen am Pranger. Die Druckwaren sorgten dafür. Mit Wort und Bild. Jetzt flieh. Wohin? Umbringen. Sie. Sie erwürgen. Aber seine Hände rührten sich nicht. Ihm kam es vor, als ginge das Hämmern eine unendlich lange Zeit. Es hörte einfach nicht mehr auf. Er kriegte keine Luft mehr. Er atmete ja auch nicht mehr. Nachher sagte er sich auch, daß das Ganze vielleicht doch nur 11 oder 21 oder höchstens 29 Minuten gedauert habe. Aber solange es dauerte, schien es überhaupt, überhaupt nicht aufhören zu können. Wenn ihm wenigstens ein Satz eingefallen wäre, der Sabine und ihn aus dem Bann des bloßen Zuhörens befreit hätte. Ihm war nichts eingefallen. Gebannt hatten sie zuhören müssen, bis es zu Ende war. Wenn sie jetzt mit Klaus und Helene Buch im selben Hotel schliefen, würde Sabine sich sicher vorstellen, was die Buchs jetzt täten, und unwillkürlich würden Klaus Buch und jenes italienische Hotelerlebnis einander berühren, in eins fließen, Klaus Buch wäre dann der von damals. Die stünden unheimlich auf Federn. Was immer das ist, dachte Helmut, mich geht es nichts an. Aber Sabine. Sabine war die Stelle, an der er verletzbar war. Wollte er wettbewerbsfähig sein? Wenn er in den Druckwaren die Zahlen las, die

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