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Ein fliehendes Pferd

Ein fliehendes Pferd

Titel: Ein fliehendes Pferd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser , Helmuth Kiesel
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sein erstes Viertel immer ziemlich schnell, weil er, ohne etwas getrunken zu haben, nicht die geringste Lust hatte, den Mund aufzumachen.
    Plötzlich schrie Klaus Buch: Nein. Sabine sagte: Jetzt hast du’s. Helmut rief: Otto, down. Klaus Buch stand, hielt mit der einen Hand die andere, als sei die schwer verletzt.
Hel sagte: Also, Klaus, bitte!
Klaus, weiterhin seine Hand haltend, sagte: Er hat so eine kalte nasse Zunge, Mensch, du hast doch überhaupt keine Ahnung. Und immer bloß mich, warum denn immer bloß mich. Versteht ihr das?
Helmut sagte: Nein.
Sabine sagte: Jetzt darf er nie mehr mit. So. Und zu Otto hinunter: Böser Hund.
Hel sagte: Armer Otto. Er kann einem wirklich leid tun.
Wer, rief Klaus Buch.
Hel sagte: Du natürlich auch, Schatz.
Helmut sagte fröhlich: Es gibt nichts, was einem nicht leid tun kann.
    Klaus Buch sagte: So, jetzt lege ich meine Hände auf den Tisch, bitte, wenn jemand bemerkt, daß ich aus Versehen eine Hand vom Tisch nehme, sagt er es mir sofort.
    Helmut bemerkte, daß Klaus Buch im Verhältnis zu seinem fast zierlichen Körperbau auffallend massive Gelenke hatte. Diese Unterarme. Deutlich kräftiger als seine. Und die Hände, breiter. Die Finger, stärker. Es war gar keine Frage, daß der auch ein größeres, fähigeres Geschlechtsteil hatte. Trotzdem glaubte Helmut zu bemerken, daß Hel sich gern ein bißchen lustig gemacht hätte über den Körpergesundheitsdienst ihres Mannes.
    Und jedes Mal, wenn sie mit ein bißchen weniger als Schmacht zu ihm hinschaute, sagte er sofort mit mutloser Stimme: Du magst mich nicht mehr, gell. Darauf ließ sie ihre Lippen sich jedes Mal sofort zum Kuß formieren und küßte hinüber zu ihm. Helmut hatte das Gefühl, sie küsse einfach hinüber, egal, wo es gerade hintreffe. Aber wenn man die braunen Arme und Hände der beiden und Helmuts und Sabines Arme und Hände auf dem Tisch liegen sah, wußte man, wer zusammengehörte.
    Helmut spürte, daß ihm heute Zigarren und Wein schon weniger schmeckten als am Tag zuvor. Er hatte Angst, er könne seine Gewohnheiten gegen dieses Paar nicht verteidigen. Die griffen ihn ununterbrochen an. Beide. Die machten ihn fertig. Es genügte, mit denen am Tisch zu sitzen, um sich widerlegt zu fühlen. Hel hatte inzwischen Klaus Buchs Hände in die ihren genommen. Sie hatte ihn überhaupt an sich genommen. Er hing ihr irgendwie unter einem Arm, den Kopf an ihrer Brust. Helmut und Sabine bemerkten gleichzeitig, daß Klaus drauf und dran war,
einzuschlafen.
Leise, sagte Sabine, er schläft.
    Hel erklärte, daß Klaus seit einigen Tagen jeden Morgen auf dem Sportplatz am Yachthafen fünf Runden gelaufen sei; sie als Zeitnehmerin; beste Zeit, 5:11; also habe Klaus sich für ein läuferisches Genie halten müssen; 2000 Meter in 5:11, das sei, zum Beispiel, russische Jahresbestzeit; aber heute morgen habe Klaus von so einem furchtbaren, alten Freiübungenmacher hören müssen, die Bahn habe nicht 400 Meter, wie es sich gehöre, sondern nur 300, also sei Klaus nicht 2000, sondern nur 1500 Meter gelaufen. Sie hätte den zynischen Freiübungenmacher umbringen können. Kann der so’n Quatsch nicht für sich behalten. Klaus murmelte: Helmut, bitte, jetzt sag mir bloß, wie hat der Physikpauker immer gerufen im Parterre? Helmut wußte es nicht. Mensch, Helmut, stöhnte Klaus und zeigte ein schmerzverzerrtes Gesicht, der Physikpauker, der immer brüllte: Das Untergeschoß gehört mir. So ähnlich. Parterre ist mein Bereich. Oder so. Ich brauche den Satz. Wenn du nicht ganz ganz genau den Satz hast, hast du gar nichts. Ein Wort an der falschen Stelle, und der Satz ist taub, tot. Sobald du das Wort an die richtige Stelle kriegst, SESAM ÖFFNE DICH, der Pauker steht da, brüllt, du stehst da, alles klar. Jetzt hilf mir doch, Helmut, bitte.
    Jetzt helft ihm doch, bitte, seht ihr nicht, wie er leidet, sagte Hel, er wird schon ganz blau vor Erinnerungssauerstoffknappheit. Helmut!
    Helmut sagte automatisch: Der ganze untere Stock gehört der Physik. Ja, Mensch, ja, brüllte Klaus Buch, sprang auf, fiel Helmut um den Hals und wimmerte weitere Ja’s. Und wiederholte selig: Der ganze untere Stock gehört der Physik. Helmut sah über Klaus Buchs Schulter zu Hel hin. Er wollte ihr zu verstehen geben, daß allein sie den Satz eines längst verstorbenen Physiklehrers aus dreißigjähriger Tiefe hervorgerufen habe. Klaus murmelte glücklich: Ruf die Bedienung. Helmut brüllte förmlich alarmiert: Zahlen. Alles zusammen!!
    Klaus bedeckte beide

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