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Ein fliehendes Pferd

Ein fliehendes Pferd

Titel: Ein fliehendes Pferd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser , Helmuth Kiesel
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man erbringen mußte, wenn man nicht als impotent gelten wollte, kam er sich vor wie am Pranger. Er fühlte sich schon seit Monaten nicht mehr aufgelegt, seiner Geschlechtlichkeit zu entsprechen. Daß die einander öffentlich vorschrieben, wie oft sie auf ihre Frauen kriechen müssen, um nicht als impotent zu gelten, erregte bei ihm Widerwillen und Ekel. Sobald er das Bedürfnis spürte, sich geschlechtlich zu betätigen, brauchte er nur an die furchtbare Propaganda in den Druckwaren zu denken, dann wurde er ruhig. Er hoffte, das läge bald ganz hinter ihm. Aber bevor er nicht mit Sabine gesprochen hatte, lag nichts hinter ihm. Er hätte ihr längst sagen müssen, was bei ihm dazwischenkam, wenn er zu ihr hinüber wollte. Kaum dachte er an sie, wollte sie berühren, fiel ihm etwas Verhinderndes ein. Es kam ihm dann völlig lächerlich vor, sich hinüberzuwälzen, oder die Hand vorauszuschicken, oder Sabine direkt zu fragen, oder ein verführendes Gespräch anlaufen zu lassen. Nichts kam ihm dann so unerträglich komisch vor wie alle vom Geschlechtlichen bestimmten oder auf es gerichteten Handlungen. Und er hatte das Gefühl, das könne mit der Art der öffentlichen Empfohlenheit dieser Handlungen zu tun haben. Wollen, ja. Tun, nein. Daß er einmal nicht mehr wollen würde, wagte er nicht zu hoffen. Es würde wahrscheinlich immer eine Art offener Wunde sein. Er mußte Sabine wenigstens sagen, daß er nicht ruhig neben ihr liegen könne, solang er nicht wisse, ob sie ruhig neben ihm liege. Er wollte ihr ein Zeichen geben. Deshalb schob er seine Hand vorsichtig zu ihr hinüber und ließ sie in der Nähe ihrer Schulter liegen. Er beneidete Klaus Buch nicht um das, was der jetzt im Augenblick exekutieren mußte. Wirklich nicht? Er hatte diesen durch und durch gehenden Sensationen gegenüber keine entschiedene Meinung und schon gar keine eindeutige oder gar eindeutig negative. Das öffentliche Gebot der Luststeigerung gab er in der Schule lauthals weiter. Galt er nicht als fortschrittlich? Das war ein Feld, wo er sein Inkognito noch gerettet hatte. Er galt als sehr fortschrittlich. Vor sich selbst berief er sich auf das Recht auf Meinungsfreiheit. Er mußte ja wohl nicht den Schein, den er in der Schule produzierte, in seinem häuslichen und innersten Leben praktizieren. Sollte das Gebot der Luststeigerung während der Freizeit nicht bewirken, die Lustleistungen eines jeden zu seiner Sache zu machen? Wie die Schule die Noten einem jeden als seine Noten verpaßte. Er glaubte berechtigt zu sein, in der Schule die Ächtung der Unlust zu betreiben, wie es die Gesellschaft wollte, zu Hause aber die Ächtung der Lust zu versuchen, wie er es wollte. Nichts gegen FAZ, BILD, Parlament und Schule. Wie sollten denn die Leute das Leben aushalten, ohne Schein! Er merkte doch, wie schwierig es war, sich nur für Augenblicke und nur um eine Winzigkeit und nur versuchsweise aus dem Herrschaftsbereich des Scheins zu entfernen. Sofort fühlst du dich am Pranger. Also rasch zurück in die Lustfront, Freizeitfront, Scheinproduktionsfront. Aber immer wieder diese Versuchung, sich zu entfernen. Außer Sabine durfte es niemand bemerken. Sie mußte sogar mitmachen, sonst kam er nicht weg. In der Schule würde er weiterhin den verlangten Schein produzieren. Zu Hause aber würde er sich gehen lassen. Er hatte den Zustand, in den er dann gelangte, schon getauft: blutige Trägheit. Das war seine Lieblingsstimmung. Da empfand er seine ganze Schwere, aber mit Zustimmung. Diese Schwere, ein bißchen schwitzend. Mit Zustimmung. Schwer und schwitzend und blaß. Auch die Farbe empfand er mit Zustimmung. Leichenfarbe. Mit Zustimmung. Er, eine schwere, schwitzende Leiche, das war seine Lieblingsstimmung, blutige Trägheit. Wie Sabine hereinziehen? Wahrscheinlich lebte sie noch unter dem ungeschwächten Diktat des Scheins. Man müßte ihr eine Ahnung vermitteln vom Gegenteil. Luxus, würde sie sagen. Sie mit ihrem sozialen Engagement, beziehungsweise dem Engagement, das der Produktion sozialen Scheins diente. Er merkte, daß bei ihm der Ekel wegweisend war. Er war fein heraus. Er hatte seinen Ekel. Seine Position hinter der Position. Er hatte seine Freude am Mißverstandenwerden. Täuschung, war das nicht die Essenz alles Gebotenen? Das Ziel der Scheinproduktion! War er mit seiner entwickelten Täuschungsfähigkeit und -freude nicht ein Ausbund all dessen, was hier und heute gewollt war? Von wegen Einsamkeit, Luxus, Abseitigkeit! Ein Repräsentant war er! Der

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