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Ein fliehendes Pferd

Ein fliehendes Pferd

Titel: Ein fliehendes Pferd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser , Helmuth Kiesel
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typischste Typische überhaupt war er! Er war der Prototyp! Schön. War er hineingekommen, genoß er sie jetzt, seine blutige Trägheit? Fast. Ja, fast.
    Diese herrliche Stimmung war leider sehr temperaturempfindlich. Es mußte warm sein. Er mußte es warm haben. Die geringste Spur von Kühle zerstörte alles. Daß er immer noch kalte Füße hatte, störte ihn. Es durfte einem nichts mehr unangenehm auffallen, dann war man drin. Er begriff nicht, warum seine Füße nicht mehr warm wurden. Die schmerzten vor Kälte. Er zog seine Socken an. Sabine, die noch ihr Wagner-Mein-Leben las, fragte, was er habe. Kalte Füße, sagte er schonungslos. Aber die Socken machten seine Füße eher kälter als wärmer. Verfluchtes Kunstfaserzeug, sagte er, riß sich die Socken herunter und holte seinen wollenen Pullover. In den wickelte er die Füße hinein. Wenn er mit einem Fuß den anderen berührte, merkte er, daß beide Füße warm waren. Trotzdem spürte er in jedem Fuß für sich ein Kältegefühl, das schmerzte.
      Sabine legte das Buch weg und streckte eine Hand herüber. Er drückte die Hand flüchtig und wollte sie Sabine zurückgeben. Aber sie streckte die Hand gleich wieder herüber. Laß mich doch, sagte sie in einem Ton, der ihr, nach seinem Empfinden, nicht mehr zustand. Also ließ er ihre Hand auf seiner Schulter liegen.
    Seine Hand hatte er zurückgezogen. Er würde sich unmerklich wegdrehen, um ihre Hand, die ihn jetzt störte, wieder loszuwerden. Aber Sabine bemerkte seine Absicht. Offenbar war sie völlig auf die auf Helmuts Schulter liegende Hand konzentriert. Diese Hand war ihr Korken, der ihr verriet, ob einer anbiß. Er würde nicht anbeißen. Was fiel ihr überhaupt ein, jetzt plötzlich wieder sowas anzufangen. Er konnte doch annehmen, daß der glücklich erreichte Versuchszustand nicht ganz ohne ihre Zustimmung erreicht worden war. Wenn sie weiterhin so mit ihrer Hand agitierte, würde er sie fragen müssen, wie es ihrerseits zu diesem Rückfall komme. Es blieb tatsächlich nichts anderes übrig. Sie hörte nicht auf. Und wenn er nichts sagte, dann stellte sie sich auf Fortschritt ein. Und wenn sie Erwartungen wachsen ließ, würde er zu bezahlen haben. Vielleicht mußte man das fällige Gespräch führen. Was soll jetzt das, Sabine, sagte er ruhig. Sie antwortete mit Lauten, die er lieber nicht gehört hätte. Draußen blitzte und donnerte es. Ein Nachtgewitter. Auch das noch. Wahrscheinlich hielt sie ein Gewitter für eine Begünstigung. Oder gar – wenn sie sich schon zu sehr hineingesteigert hatte –, für eine Aufforderung. Aber Sabine war doch keine Wagnerianerin. Dann frag ich eben Klaus, ob er mit mir schlafen will, sagte sie. Um Gottes Willen, Frau, dachte er, sag das nicht. Ganz langsam und so milde als möglich machte er: Pschscht. Er streichelte jetzt ihren Kopf. Nur die Haare. Eindeutig beruhigend. Ablenkend. Plötzlich prasselte draußen ein Regen herab. Das hielt er für eine Lösung. Ganz langsam zog er seine Hand zurück. Er zog seine Knie an, suchte die Knie mit dem Kinn, machte sich so klein als möglich. Er hatte das Gefühl, er habe die letzten Jahre allein gelebt. Sabine, dachte er, hörst du mich? Er hatte sie gekränkt, vorher. Er konnte sich nicht mehr rühren. Er war starr. Vor Schrecken. Sie waren einander so nahe, daß er jede Kränkung, die er ihr zufügte, empfand, als würde sie ihm zugefügt. Erst viel später, als er sicher sein konnte, daß Sabine eingeschlafen war, löste sich die Starre. Er konnte daran denken, auch einzuschlafen.
    Er träumte, er drehe sich in seinem Sarg um und habe trotz der vollkommenen Dunkelheit den Eindruck, daß eine Sargwand fehle. Dieser Eindruck war so stark, daß sich eine Hand zu bewegen begann und dahin tastete, wo die Wand fehlen mußte. Tatsächlich, sie war nicht da. Sofort folgte, schon rascher, eine Bewegung nach oben. Der Sargdeckel war da. Aber da, wo die Wand fehlte, mußte die Hand ängstlich hinaustasten. Sie spürte eine Stufe. Er mußte sich hochstemmen und kam außerhalb des Sargs auf die Stufe zu liegen. Da konnte man nicht bleiben. Er rollte, ohne es zu wollen, auf der anderen Seite der Stufe abwärts und blieb liegen. Aber jetzt war klar, daß er sich in einer Halle befand, aus der man hinauskommen konnte. Daran war er interessiert. Er wußte, daß er zurückkommen würde ans Tageslicht, zu den Leuten. Und er wußte, es gab nur eine Bedingung: wenn dich ein einziger erkennt, ist es aus, für immer. Er erwachte vor Angst

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