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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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BITTE LASSEN SIE SICH EINEN TISCH ZUWEISEN . Es verstreichen fünf Minuten. Es verstreichen zehn. Wir warten immer noch, obwohl drei Empfangsdamen um die Zwanzig inzwischen ganze Busladungen vor uns plaziert haben. Was da abläuft? Altersdiskriminierung. Wir Jungalten, wir vom Babyboom, die wir mit siebzig so jung und vital sind wie unsere Eltern es mit fünfzig waren, die wir alle Macht besaßen und die Hits der Sechziger erfunden haben, wir sind auf einmal unsichtbar, irrelevant, reine Dekoration in einer überbevölkerten, ressourcenarmen Welt. Was wollen uns diese jungen Leute sagen? Sterbt doch, das sagen sie. Und zwar schnell.
    Aber sie kennen Andrea nicht. Im nächsten Moment hat sie eine verdattert dreinblickende Kellnerin mit Raupenfrisur mit der einen großen Hand gepackt und den Geschäftsführer mit der anderen, und prompt werden wir zu einem Tisch geleitet, genau ins Zentrum dieses brodelnden Chaos aus Völlerei und Lärm, tut uns leid, daß Sie warten mußten, kein Problem und guten Appetit. Ich will ein Bier. Ein mexikanisches Bier. Aber es gibt kein Bier. »Tut mir leid«, sagt der zwölfjährige Kellner und sieht mich an, als litte ich an Gehirnverknöcherung, »nur Sake.«
    Was sonst?
    Andrea bestellt Wels-Enchilada und dazu eine Sake-Margarita, und nachdem ich lange zwischen den Wels-Fajitas und bagre al carbón schwanke, ehe ich mich für ersteres entscheide, erhebe ich mein Glas mit Sake on the rocks und stoße es gegen den Salzrand ihrer Margarita. »Auf uns«, schlage ich vor, »und unser neues Leben in den Bergen.«
    »Ja«, sagt sie, ein leises Lächeln auf den Lippen, und ich denke darüber nach, über unser gemeinsames Leben, wie es sich vor mir ausbreitet, in den Fenstern die bleiche, windgepeitschte Sonne, um uns herum das Stimmengetöse, und ich frage mich unwillkürlich, wie es wohl sein wird. Wir könnten noch gut fünfundzwanzig oder sogar fünfzig Jahre lang leben. Der Gedanke deprimiert mich. Was wird dann noch übrig sein?
    »Du ißt nichts«, sagt sie. Ein Dutzend Kinder – Kleinkinder, Babys – laufen heulend zwischen den Tischen herum, ducken sich unter den erhobenen Armen der Kellner durch und verschwinden in dem Meer von Gesichtern. Ihre Zahl ist unendlich, denke ich, diese vielen hungrigen, grapschenden Menschen, die dem Neuen und Besseren, dem Tollen und Unvergänglichen nachjagen, und ich stehe allein gegen sie alle – aber das ist genau die Haltung, die mich damals vor vielen Jahren irregeleitet hat. Lieber gar nicht denken. Lieber nicht handeln. Einfach nur das Banner der Sinn- und Zwecklosigkeit schwenken und die Nase in einem Glas Sake versenken. »Meins ist nicht übel«, sagt Andrea und hält mir eine Gabelvoll eitergelben, in salsa roja getunkten Wels entgegen. »Willst du probieren?«
    Ich schüttle nur den Kopf. Mir ist zum Heulen. Wels .
    Sie spricht jetzt sehr leise, so leise, daß ich sie kaum hören kann bei dem Radau. »Weißt du was« – dabei durchwühlt sie ihre Handtasche, die das Format eines an zwei schwarzen Lederbändern aufgehängten Überseekoffers hat –, »ich hab was für dich. Ich dachte mir, daß du dir das wünschen würdest.«
    Wie reagiere ich darauf? Mit einem kläglichen Hundeblick aus großen feuchten Augen. Ich wünsche mir gar nichts, außer daß die Welt wieder so wird wie früher, daß ich meine Tochter und meine Eltern zurückbekomme und daß die ausgestorbene und todgeweihte Fauna Amerikas – der Brillensichler, die Indiana-Fledermaus, der Marguay, die Perdido-Key-Strandmaus, der kalifornische Grizzly und die Chittenango-Bernsteinschnecke – wieder da wäre, so sie hingehört. Ich will nicht in dieser Zeit leben. Ich möchte in der Vergangenheit leben. In der fernen Vergangenheit. »Was denn?« frage ich mit tonloser Stimme.
    Das Rascheln von Papier. Die Streicher schrummeln und klettern die Oktaven hoch, sie spülen jedes Leben aus dieser schleppend langsamen Bearbeitung von Sympathy for the Devil . Ich sehe ihre Hand etwas über den Tisch schieben, einen Stapel Papier – echtes Papier –, und die Zeilen der Schrift darauf wirken wie verschlüsselte Hieroglyphen. Und dann halte ich ihn auf Armeslänge von mir weg und blinzle, bis mir die Augen tränen, so daß ich meine Taschen nach der Lesebrille abklopfe.
    »Hab’s mir ausgeliehen«, sagt sie. »Na ja, eigentlich geklaut.«
    Gerade will ich fragen: »Was? Was ist das?«, da findet die Brille den Weg auf meine Nase und ich sehe es selbst.
    Es ist ein Manuskript. Ein Buch.

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