Ein Freund der Erde
Und der Titel, der mit einemmal lesbar ist, starrt mich unter dem Zellophanschutz der Titelseite an:
MÄRTYRERIN FÜR DIE BÄUME: DIE GESCHICHTE DER SIERRA TIERWATER
VON APRIL F. WIND
Wie die Geschichte endet, weiß ich schon.
Aber da ist es, ein konkretes Ding, unbestreitbar, ein Gewicht in meiner Hand. April F . Wind? Wofür das »F.« wohl steht? frage ich mich. Für »Fliegender«? »Fall-«? »Fortwährender«? Ich blättere flüchtig in den Seiten, das handfeste Geräusch von Papier, eines Ausdrucks, der Stoff des Wissens, so wie in den Zeiten, bevor man es aus Steckdosen bezog. Reden wir hier nicht über die Ungenauigkeiten und den albernen Esoterik-Revisionismus oder die New-Age-Psychoanalyse, sondern über das Ende, nur darüber.
Sierra setzte den Rekord. Setzte ihn täglich aufs neue, so wie Kafkas Hungerkünstler, doch im Gegensatz zu diesem entrückten Artisten hatte sie ein Publikum. Ein echtes und ständig wachsendes Publikum, das Wallfahrten zum Schrein ihres Redwoods unternahm, ihr bis zu tausend Briefe pro Woche schrieb und Denkmäler errichtete, Gedichte dichtete und Lieder textete, Menschenketten bildete und für sie marschierte, bis Axxam einen abgrundtief schlechten Ruf hatte. Insgesamt blieb sie knapp über drei Jahre dort oben, hoch über dem Getümmel, die Vögel ihre einzige Gesellschaft, geborgen in ihrer Umwelt wie eine Schnecke in ihrem Haus oder eine Muräne im sicheren Versteck ihrer Höhle.
Zu Anfang – in den Wochen und Monaten nach Climber Dekes gescheitertem Versuch, sie herunterzuholen – brachte Coast Lumber eine Schikanenkampagne ins Rollen, die sie entweder zum Absteigen oder in den Wahnsinn treiben sollte, am besten beides. Sie fällten Bäume rund um ihren Hochsitz, das Heulen der Motorsägen verdrängte die Morgendämmerung und dauerte mit unverminderter Heftigkeit bis in die Nacht, und ringsherum legten die Holzfäller die Hände an den Mund und brüllten Schweinereien zu ihr hinauf. He, du kleine Nutte – willst du nicht das hier in den Mund nehmen? Wir sind hier zu fünft, und wir klettern heute nacht zu dir rauf, warte nur auf uns, ja? Und halte deine Fotze sauber, ich will dich nämlich befingern. Für die Nächte hatten sie einen riesigen Lautsprecherturm um den Baum aufgestellt, der Polkas, Musicalmelodien und Senatsausschußreden in die Kuppel des Himmels hinaufdröhnte, bis der Wald davon widerhallte wie eine Folterkammer. Sie rückten mit Hubschraubern an, mit den großen Helikoptern, die sie sonst zum Abschleppen von Dreißigmeterstämmen auf entlegenen Bergkuppen verwendeten, und diese Dinger hingen neben ihrem Baum und entfesselten mit ihren Propellern einen wahren Hurrikan. Es war zum Schießen. Es war ein Witz. Sie konnte sehen, wie die Piloten sie angrinsten und ihr die emporgereckten Daumen hinhielten. Okay, okay, mal sehen, ob wir dich da runterpusten können. Alles verstanden? Ende und aus.
Dann probierten sie es mit Aushungern. Am selben Tag, als Climber Deke ihr die untere Plattform mit den Kochutensilien und dem Proviant abmontiert hatte, stellten die gekauften Schergen rings um den Redwoodhain Wachen auf, die ihr den Nachschub kappen sollten. Mit Hilfe eines langen, schlaksigen Burschen namens Starlight, der mir einmal stammelnd gestand, er habe sich in meine Tochter verliebt und wolle sie heiraten, sobald sie von diesem Baum herunterkäme, schmuggelte ich drei Nächte lang Nahrungsmittel zu ihr, und noch viele weitere Nächte durchstreifte ich die Umgebung mit einem Baseballschläger in der Hand, wobei ich darum betete, eins dieser dreckigen Schweine möge versuchen, die Drohungen gegen sie wahrzumachen. Sierra ließ sich nicht beirren. Ihr konnten sie keine Angst einjagen. »Keine Sorge, Dad«, flüsterte sie eines Nachts, als sie so weit wie unbedingt nötig den Stamm hinabkletterte, um den mitgebrachten Proviant entgegenzunehmen (Starlight kämpfte von der obersten Stufe einer Aluleiter, die ich von unten stabilisierte, gegen die Schwerkraft an). »Die quatschen doch nur.« Ihr Gesicht glomm bleich vor der leeren Schwärze, die ihr Baum war. »Sie haben Schiß, das ist alles.«
Andrea und Teo setzten die Presse in Bewegung – COAST LUMBER WILL BAUMBESETZERIN AUSHUNGERN –, und die Holzfirma unternahm einen Rückzieher. Die E.F.!-Hilfsmannschaft kam zurück, entschlossener als je zuvor, die untere Plattform wurde neu errichtet, und Coast Lumber kehrte der ganzen Geschichte den Rücken. Sollte meine Tochter ruhig unbefugt auf einem ihrer
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