Ein froehliches Begraebnis
und nun war die Zeit gekommen, sie hervorzuholen.
Nina saß auf der Lehne des weißen Sessels, der Sessel war leer. Fima stand auf, erhob sein Glas und wollte etwas sagen.
»Hört mal alle her!« rief T-Shirt.
Irina erstarrte – von ihrer eigensinnigen Tochter hätte sie alles mögliche erwartet, aber keinen öffentlichen Auftritt.
»Hört mal her! Das hier ist von Alik für euch!«
Alle drehten sich zu ihr um. Im Nu war sie hochrot, wie Lackmuspapier bei einer chemischen Reaktion, ging aber gleich in die Hocke und legte eine Kassette in den Recorder, der wie immer auf dem Boden stand. Sofort, beinah ohne Pause, erklang Aliks klare, ziemlich hohe Stimme:
»Kinder! Mädchen! Meine Häschen!«
Nina krallte sich an der Sessellehne fest. Aliks Stimme fuhr fort:
»Ich bin hier, Kinder, bei euch! Gießen wir uns was ein! Laßt uns trinken und essen! Wie immer! Wie jedesmal!«
Mit welch simplen technischen Mitteln er in einem einzigen Augenblick die Mauer der Ewigkeit durchbrach, ein Steinchen herüberwarf vom anderen Ufer, das in undurchdringlichen Nebel gehüllt ist; sich mühelos und ungezwungen für einen Augenblick der Macht des unüberwindlichen Gesetzes entzog, ohne jeden gewaltsamen Kunstgriff der Magie, ohne ein Medium oder einen Totenbeschwörer zu bemühen, ohne wackelnde Tische und kreisende Gläser. Er reichte einfach denen die Hand, die er liebte.
»Und ich bitte euch, kein Scheißgeheule! Es ist alles bestens! Alles in Butter! Okay? Ja?«
Joyka schluchzte laut auf. Wie versteinert, mit hervorquellenden Augen, saß Nina da. Die Frauen ignorierten Aliks Bitte und begannen allesamt zu weinen. Und die Männer, die es sich erlauben konnten, ebenfalls. Fima zog aus seiner Hosentasche einen karierten Lappen, der sich als Taschentuch ausgab.
Alik schien alles zu sehen.
»Warum seid ihr so scheiße drauf, Kinder? Trinken wir auf mich! Ninotschka, auf mich! Auf geht’s! T-Shirt, Kindchen, mach den Recorder mal kurz aus.«
Die Kassette lief stumm weiter. T-Shirt drückte erst auf den Knopf, als Aliks Stimme fragte:
»Habt ihr ausgetrunken?«
Sie spulte zurück.
Sie tranken stehend und ohne anzustoßen. Die große Leere, die eintritt, wenn jemand gestorben ist, war auf trügerische Weise ausgefüllt. Aber – und das war erstaunlich – sie war immerhin ausgefüllt.
Irina stand an den Türrahmen gelehnt. Sie hatte sich schon vor langer Zeit ausgeweint. Trotzdem gab es ihr einen Stich. Was war nur so Besonderes an ihm? Er hat alle geliebt? Wie hat sich das denn geäußert? Er war ein guter Maler? Was heißt das heute schon. Er verkauft sich nicht, also ist er schlecht. Ein Lebenskünstler war er. Er hat künstlerisch gelebt. Warum rackere ich mich eigentlich so ab, warum beiße ich mich durch, verdiene einen Haufen Geld? Das ist doch so furchtbar unkünstlerisch. Darum, mein lieber Freund, weil du nicht bei mir warst? Ja, wo warst du denn?
»Habt ihr aus getrunken?« ertönte Aliks Stimme. »Ich bitte darum, daß sich alle ordentlich besaufen. Vor allem, sitzt nicht mit verheulter Visage rum. Tanzt lieber. Ja, was ich noch sagen wollte: Libin und Fima! Wenn ihr euch heute nicht versöhnt, dann seid ihr Arschlöcher. Wir sind so wenige, eine Hand voll bloß. Trinkt auf mich, und begrabt euren blödsinnigen Zoff!«
Libin und Fima standen sich gegenüber, den Tisch zwischen sich, die einstigen Freunde, Jungen vom selben Hof, und lächelten über Aliks verspätete Beschimpfungen. Sie hatten sich in diesen heißen Monaten bereits ausgesöhnt. Wenn es auch keine eigentliche Versöhnung gegeben hatte, war in der allgemeinen Aufregung dieser Tage mit Panzern, Schüssen und der Revolution in Moskau ihr alter Zwist längst erloschen durch Äußerungen, die an niemanden direkt gerichtet waren, aber doch ihren Adressaten fanden.
»Nicht anstoßen, nicht anstoßen«, mahnte Faina.
»Warte, nicht mit dem Pappbecher.«
Die Gläser stießen derb und dumpf gegeneinander.
»Auf dein Wohl, Rauhbein!«
»Auf deins auch, Büstenhalter!«
Ein Büstenhalter hatte in der Tat einmal eine Rolle gespielt; weiß, mit großen Hornknöpfen, mit ausgeleiertem Gummi und einem Strumpfbandverschluß, der dick mit Garn umwickelt war. Damals in Charkow, gleich nach dem Krieg, in ihrem vorletzten Leben.
»Kinder, ich kann euch nicht danke sagen, denn so ein Danke gibt es nicht. Ich vergöttere euch alle. Besonders euch, Mädchen. Ich bin dieser verfluchten Krankheit sogar dankbar. Ohne sie wüßte ich gar nicht, was ihr für. . .
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