Ein Ganz Besonderer Fall
blieb einen langen Augenblick in seiner dunklen Ecke angelehnt stehen, mit geschlossenen Augen und schwer und erschöpft atmend. Dann tastete er sich schwerfällig zu seiner Bank und setzte sich. Er nahm den Pinsel in eine Hand, die zu unsicher war, um ihn zu benutzen. Doch indem er ihn festhielt, fand er allmählich in die Realität zurück und bot immerhin das Bild eines Illustrators, der über seiner Arbeit saß, falls jemand ihn beobachtete. Doch in seinem Innern herrschte eine taube Verzweiflung, in der er kein Licht und keine Erlösung erkennen konnte.
Zufällig war es Rhun, der Zeuge wurde. Er hatte Bruder Urien im Hof getroffen, hatte das gefaßte Gesicht und die glühenden, verletzten Augen gesehen. Er hatte nicht gesehen, aus welcher Lesenische Urien gekommen war, doch er spürte, roch und fühlte am eigenen Fleisch, wo Urien mit seinem unbändigen Zorn und seinem Schmerz gewesen war.
Er sagte kein Wort zu Fidelis und machte keine Bemerkung zum bleichen Gesicht seines Freundes oder über die seltsame Steifheit seiner Bewegungen, als er ihn begrüßte. Er setzte sich zu ihm auf die Bank und sprach über alltägliche Angelegenheiten, über das Muster des noch unvollendeten großen Buchstabens, und nahm einen feinen Pinsel, um ihn zu vergolden. Er brachte behutsam die goldenen Ränder von zwei oder drei Blättern an, und seine Zunge lag schief im Mundwinkel wie bei einem Kind, das die Buchstaben lernt.
Als die Glocke zur Vesper läutete, gingen sie zusammen hinein, beide mit gefaßten Gesichtern, aber keiner ruhigen Herzens.
Rhun nahm nicht am Abendessen teil und suchte statt dessen das kleine Zimmer im Krankenquartier auf, in dem Bruder Humilis schlief. Er setzte sich neben das Bett und wartete lange Zeit geduldig, doch der kranke Mann erwachte nicht aus seinem Schlaf. In dieser Stille und Abgeschiedenheit konnte Rhun die feinen Linien des ausgezehrten, alternden Gesichts genau betrachten, er konnte sehen, wie tief die Augen in den Schädel gesunken waren, wie sehr die Wangen zu hageren Höhlen verfallen waren, und wie grau und schlaff das Fleisch geworden war. Er selbst war so voller Leben, daß er mit außergewöhnlicher Klarheit bei diesem hageren Mann das Nahen des Todes erkannte. Er gab seine ursprüngliche Absicht auf. Denn selbst wenn Humilis erwachte und das bißchen Leben aufstachelte, das noch in ihm war, um Fidelis zu helfen, Rhun konnte einem Mann, der schon mit der seelischen Last seines eigenen Endes befrachtet war, keine weitere Last aufbürden. So blieb er still sitzen und wartete, und nach dem Abendessen kam Bruder Edmund, der vor der Nachtruhe eine letzte Runde im Krankenquartier machte.
Rhun näherte sich ihm in dem mit Steinen ausgelegten Gang.
»Bruder Edmund, ich mache mir Sorgen um Humilis. Ich habe bei ihm gesessen. Er wird beim Zusehen schwächer. Ich weiß, daß Ihr ihn immer gut versorgt, aber ich dachte - könnte man nicht eine Pritsche für Fidelis aufstellen? Die beiden wären dann sicher ruhiger. Im Dormitorium, unter uns anderen, macht Fidelis sich ständig Sorgen und kann nicht schlafen. Und wenn Humilis des Nachts erwacht, wird er sich freuen, Fidelis bei sich zu haben, bereit ihm zu dienen, wie er es immer tut. Sie haben zusammen den Brand in Hyde erlebt…« Er holte tief Luft und sah Bruder Edmund in die Augen. »Sie sind einander näher«, sagte er ernst, »als sich Vater und Sohn je sein können.«
Bruder Edmund ging selbst, um nach dem Schlafenden zu sehen. Sein Atem ging flach und schnell. Die leichte Decke lag flach und glatt über dem langen Körper.
»So soll es sein«, sagte Edmund. »Im Vorraum der Kapelle gibt es noch eine freie Pritsche, die hier hereinpaßt; allerdings wird es dann etwas eng. Kommt, helft mir, sie herüberzutragen, und dann könnt Ihr Bruder Fidelis ausrichten, daß er kommen und heute Nacht hier schlafen kann, wenn er es wünscht.«
»Er wird froh sein«, erwiderte Rhun zuversichtlich.
Die Botschaft wurde einfach als Entscheidung Bruder Edmunds an Fidelis übermittelt, zum Seelenfrieden und zur besseren Versorgung des Patienten gedacht, was nur vernünftig schien. Und natürlich war Fidelis froh. Wenn er vermutete, daß Rhun bei dieser Umquartierung die Hand im Spiel hatte, dann zeigte er sein Wissen nur mit einem flüchtigen Lächeln, das in seinem ernsten Gesicht viel zu schnell aufblitzte und verging, um bemerkt zu werden. Er nahm sein Brevier und ging dankbar über den Hof in das Zimmer, in dem Humilis immer noch den leichten
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