Ein Ganz Besonderer Fall
brauchst mich nicht zu fürchten, ich meine es gut mit dir.
Bewege dich nicht, geh nicht fort! Ich weiß, was du getan hast.
Ich weiß, was du zu verbergen hast… niemand wird es von mir erfahren, wenn du deinen Teil dazu tust. Schweigen verdient eine Belohnung… Liebe muß mit Liebe erwidert werden!«
Fidelis glitt über das polierte Holz seiner Bank zur Seite und stand auf, so daß der Tisch zwischen ihnen war. Sein Gesicht war bleich und erstarrt, die geweiteten grauen Augen riesig groß. Er schüttelte heftig den Kopf und kam um den Tisch herum, um sich an Urien vorbeizudrängen und die Lesenische zu verlassen, doch Urien breitete die Arme aus und hielt ihn auf.
»O nein, nicht dieses Mal! Nicht jetzt! Das ist vorbei. Ich habe gefragt, ich habe gebeten, und nun sollst du wissen, daß die Zeit des Bittens vorbei ist.« Seine starke Kontrolle versagte, und plötzlich flammte eine wilde Wut auf, und seine Augen blitzten rot. »Ich habe Ohren, ich könnte dich ruinieren, wenn ich wollte. Du bist besser freundlich zu mir.« Er sprach immer noch leise, damit niemand ihn hörte und niemand, der auf den Bodenplatten des Kreuzganges herankam, ihn sah und sich wunderte. Er trat auf Fidelis zu und trieb ihn in den Schatten der Lesenische zurück. »Was trägst du da unter der Kutte am Hals, Fidelis? Willst du es mir zeigen? Oder soll ich dir sagen, was es ist? Und was es bedeutet? Es gibt hier Männer, die viel darum geben würden, es zu erfahren. Und das wird geschehen, Fidelis, wenn du nicht freundlich zu mir bist.«
Er hatte seine Beute in die hinterste Ecke getrieben und sperrte ihn mit ausgebreiteten Armen ein, auf beiden Seiten die flachen Hände an die Wand gestemmt, um Fidelis an der Flucht zu hindern. Immer noch blickte ihm das bleiche, längliche Gesicht eisig und sogar verächtlich entgegen, und die grauen Augen zeigten einen Schein von Zorn und strengster Zurückweisung.
Urien schlug zu wie eine Schlange, ließ seine Hand zur Brust von Fidelis’ Kutte schießen und in den weiten Falten nach unten gleiten, um die Silberkette und das Ding herauszuziehen, das versteckt daran hing, gewärmt vom Fleisch und dem Herzen darunter. Fidelis gab ein seltsames, keuchendes Geräusch von sich und lehnte sich schwer gegen die Wand, während Urien mit einem unsicheren Schritt zurückwich und entsetzt schnaufte. Einen Augenblick herrschte ein tiefes Schweigen, in dem beide zu versinken drohten. Dann nahm Fidelis die Kette und verstaute seinen Schatz wieder in seinem Versteck. Er hatte einen Moment die Augen geschlossen, doch nun öffnete er sie wieder und starrte seinen Verfolger mit einem unbeugsamen, harten Blick an.
»Nun sollst du mehr denn je die stolzen Augen niederschlagen und den steifen Hals beugen«, flüsterte Urien.
»Du sollst demütig zu mir kommen oder dem Schicksal entgegengehen, das jedem droht, der sich vergeht, wie du dich vergangen hast. Aber ich brauche nicht zu drohen, wenn du mir zuhörst. Ich biete dir meine Hilfe an, jawohl, aufrichtig und von ganzem Herzen - du mußt mich nur zu dir hereinlassen. Warum denn nicht? Und welche Wahl hast du noch? Du brauchst mich, Fidelis, genauso verzweifelt, wie ich dich brauche. Aber wir zwei zusammen - es muß keine Grausamkeit mehr geben, nur Zärtlichkeit, nur Liebe…«
Fidelis errötete abrupt wie eine entflammte Kerze und schlug Urien mit der freien Hand, die nicht damit beschäftigt war, den profanen Schatz an der Brust zu schützen, auf den Mund und brachte ihn zum Schweigen.
Einen Moment lang starrten sie einander an, Auge in Auge, sprachlos und mit angehaltenem Atem. Dann sagte Urien mit einem knirschenden, kaum hörbaren Flüstern: »Genug! Jetzt sollst du zu mir kommen! Jetzt sollst du der Bettler sein.
Verzweifelt und aus eigenem Willen sollst du kommen und mich um das bitten, was du mir jetzt verweigerst. Denn sonst werde ich alles sagen, was ich weiß, und was ich weiß, ist genug, um dich zu verdammen. Du sollst zu mir kommen und flehen und mir wie ein Hündchen nachfolgen, denn sonst werde ich dich vernichten, und du weißt, daß ich das kann. Ich gebe dir drei Tage, Fidelis! Wenn die Vesper des dritten Tages von heute an vergangen ist, ohne daß du dich mir auslieferst, Bruder, dann werde ich die Hölle auf dich loslassen und lächelnd zusehen, wie du verbrennst!«
Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ eilig die Lesenische. Sein langer schwarzer Schatten verschwand, die Nachmittagssonne schien wieder freundlich herein. Fidelis
Weitere Kostenlose Bücher