Ein Ganz Besonderer Fall
Kein großes Vermögen, außer für einen Mann, der überhaupt keines hatte; für einen solchen aber mehr als genug.
Und immer blieb die Frage: Was ist aus ihr geworden?
Und durch dieses Gewirr begann er eine mögliche Antwort zu erkennen, und diese Ungewisse Ahnung entsetzte und erschreckte ihn mehr als alles andere. Denn wenn er recht hatte, dann konnte es, soweit er blicken konnte, kein gutes Ende geben. In allen Richtungen stieß er auf Dornen, die den Weg versperrten. Es gab keinen Ausweg, nur die Ahnung einer schlimmen Wendung. Oder ein Wunder…
Er gehorchte der Glocke, die zur Prim rief, und betete inbrünstig um ein Licht, das ihm den Weg wies. Das Bedürfnis nach einem Licht, dachte er, muß anderswo sicher dringender sein. Wer bin ich, daß ich einen Platz einnehmen will, der zu groß für mich ist?
Bruder Fidelis nahm nicht an der Prim teil, und der leere Platz schmerzte wie die Lücke, die ein gezogener Zahn hinterließ.
Rhun stand neben dem leeren Platz seines Freundes. Er würdigte Bruder Urien keines Blickes. Derlei Probleme durften seine verzückte Aufmerksamkeit für Gottesdienst und Liturgie nicht stören. Er würde später am Tage noch Zeit haben, über Urien nachzudenken, dessen Vergehen nicht freigesprochen, sondern nur aufgeschoben war. Rhun hatte keine Angst, die Verantwortung für die Seele eines anderen auf sich zu nehmen.
Er war noch ein halbes Kind und besaß die Gewißheit und Klarheit eines Kindes. Zum Beichtvater zu gehen und ihm zu berichten, was er über Urien wußte und vermutete, hätte bedeutet, Urien um den Wert des Sakramentes der Beichte zu bringen und einem bekümmerten Kameraden übel nachzureden. Ersteres war nach Rhuns Meinung arrogant, eine Art religiöser Diebstahl, und letzteres war verabscheuungswürdig, der Verrat eines Schuljungen. Und doch mußte man etwas tun, und zwar mehr, als Fidelis aus der Sphäre von Uriens Qual und Gier zu entfernen. Unterdessen betete, sang und feierte Rhun aus ganzem Herzen und vertraute darauf, daß seine Heilige ihm einen Fingerzeig gab.
Cadfael beeilte sich mit dem Frühstück, bat um Entlassung und besuchte Humilis. Er kam bewaffnet mit Leinenwickeln und grüner Heilsalbe und fand seinen Patienten aufrecht im Bett sitzend, frisch gewaschen und rasiert und schon gefüttert, falls er etwas herunterbekommen hatte. Seine Toilette schien in treuer Intimität erledigt, und ein Becher Wein und Wasser standen zu seiner Verfügung bereit. Fidelis saß auf einem niedrigen Hocker am Bett, bereit, sofort zu helfen, falls sein Patient durch einen Blick oder eine Geste einen Wunsch äußerte. Als Cadfael eintrat, lächelte Humilis. Doch es war ein bleiches Lächeln mit blauen Lippen und Wangen, die durchscheinend waren wie Eis. Es ist wahr, dachte Cadfael, während er den Gruß erwiderte, er hat diese Welt schon fast verlassen. Es wird nur noch wenige Tage dauern. Man kann zusehen, wie das Fleisch von den Knochen schmilzt und sich in Dampf auflöst. Sein Geist ist zu groß für seinen Körper, und bald muß er herausbrechen und sichtbar werden. Er findet in diesem zerbrechlichen Knochenhaufen nicht mehr genug Platz.
Fidelis blickte auf und lächelte ebenfalls. Er lehnte sich zurück, um die leichte Decke von den eingefallenen Schenkeln zu ziehen, dann erhob er sich vom Hocker, um Cadfael Platz zu machen. Er hielt sich bereit, sofort zu helfen, wenn es nötig wurde. Diese Handreichungen, die er mit soviel Liebe anbot, mußten jetzt immer öfter in Anspruch genommen werden. Es war ein Wunder, daß dieser Körper überhaupt noch funktionierte, aber der starke Wille des Mannes ließ keine Unterwerfung zu - höchstens unter eine besorgte Liebe.
»Habt Ihr gut geschlafen?« fragte Cadfael, während er die neue Wundauflage anbrachte.
»Sehr gut sogar«, sagte Humilis. »Es war gut, daß Fidelis bei mir war. Ich habe dieses Privileg nicht verdient, aber ich bin schwach und hoffe deshalb, daß es mir nicht genommen wird.
Wollt Ihr dem Vater Abt meine Bitte übermitteln?«
»Das würde ich tun, wenn es nötig wäre«, sagte Cadfael freundlich, »aber er weiß es bereits und gab seine Zustimmung.«
»Wenn ich dann also meinen Willen bekomme«, sagte Humilis, »dann sprecht jetzt für mich mit diesem Pfleger und Beichtvater und Tyrannen, daß er sich selbst etwas Gutes tun soll. Er soll wenigstens an der Messe teilnehmen, wenn ich dies schon nicht kann, und ein wenig im Garten spazieren gehen, bevor er wieder in meine Höhle kriecht.«
Fidelis
Weitere Kostenlose Bücher