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Ein Ganz Besonderer Fall

Ein Ganz Besonderer Fall

Titel: Ein Ganz Besonderer Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellis Peters
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Schlaf eines alten Mannes schlief, obwohl er gerade erst siebenundvierzig Jahre alt war. Doch hatte er sein verkürztes Leben, das jetzt so leise und resigniert dem Tode entgegenschlich, im Galopp gelebt. Fidelis kniete sich neben das Bett, um mit stummen Lippen die Nachtgebete zu sprechen.
    Es war die schwülste Nacht des heißen, drückenden Sommers; eine niedrige Wolkendecke verbarg die Sterne.
    Selbst hinter den Steinmauern des Krankenquartiers lastete die Hitze unerträglich schwer. Und hier endlich gab es wirkliche Intimität und Ruhe vor den Alltagspflichten und Notwendigkeiten der Bruderschaft. Nicht die niedrigen, mit Holz abgetrennten Zellen im Dormitorium, sondern richtige Steinwände, mit der Weite des großen Hofes und der drückenden Nachthitze als Schutz. Fidelis streifte seine Kutte ab und legte sich in die Leinentücher zum Schlafen nieder. Auf dem Tisch zwischen den beiden schmalen Pritschen brannte die ganze Nacht über neben dem Brevier die kleine Öllampe mit einer schwindenden goldenen Flamme.

10. Kapitel
    In seinem flachen Halbschlaf, der fast eine Ohnmacht war, träumte Bruder Humilis, daß er jemand weinen hörte, sehr leise nur und fast ohne Geräusch, nur am abgerissenen Atem zu erkennen: das beherrschte, aber heftige Weinen eines starken Menschen, der in eine Verzweiflung getrieben wurde, aus der es kein Entrinnen gab. Das Weinen berührte und bewegte ihn und zog ihn langsam aus dem Traum, bis er völlig wach war; doch nun war alles still. Er wußte, daß er nicht allein im Zimmer war, wenn er auch nicht gehört hatte, wie die zweite Liege hereingetragen worden war und nicht bemerkt hatte, wie der zweite gekommen und sich neben ihn gelegt hatte. Doch noch bevor er den Kopf herumdrehte und im schwachen Lampenschein die weiße Gestalt auf der Liege sah, wußte er, wer es war. Die Gegenwart oder das Fehlen dieses einen Menschen war ihm jetzt der Puls des Lebens. Wenn Fidelis bei ihm war, dann war der Schlag seines Herzens kräftig und ruhig.
    Ohne ihn war er ungleichmäßig und schwach.
    Und deshalb mußte es Fidelis sein, der sich allein in der Nacht seinem Kummer hingab und ertrug, was er nicht ändern konnte, welche Last der Sünde oder Sorge es auch war, die seine Seele aufwühlte und keine Heilung fand.
    Humilis warf seine dünne Decke zurück und setzte sich auf.
    Er schwang sich herum und stellte die Füße auf den Steinboden zwischen den beiden Betten. Er mußte nicht aufstehen, nur die kleine Lampe vorsichtig anheben, sich über den Schläfer beugen und das Licht etwas abschirmen, damit es dem jungen Mann nicht zu grell ins Gesicht fiel.
    Wenn man das Gesicht sah, so entrückt und undurchdringlich, dann war es beängstigend. Unter dem Ring aus gelocktem Haar in der Farbe reifer Walnüsse lag die hohe, breite Stirn, elfenbeinfarben über den kräftigen Augenbrauen, die dunkler waren als das Haar. Große, vorgewölbte Augenlider, schwach von Venen gemasert wie Blütenblätter, verbargen die hellen grauen Augen. Ein strenges Gesicht war es, das Kinn scharf konturiert und energisch, der Mund zierlich geformt, die Wangenknochen hoch und stolz. Wenn er wirklich Tränen vergossen hatte, dann waren sie getrocknet. Nur auf seiner Oberlippe lag noch ein feiner Schweißfilm. Humilis betrachtete ihn lange Zeit schweigend.
    Der Junge hatte seine Kutte abgestreift, um bequemer zu schlafen. Er lag auf der Seite, die Wange tief ins Kissen gedrückt. Das weite Leinenhemd stand am Hals offen, und die Kette, die er trug, war nach links gerutscht und vor seinem Hals in einem silbernen Knäuel zusammengefallen. Das Ding, das an der Kette hing, war auf dem Kissen offen zu sehen.
    Kein mit Halbedelsteinen besetztes Kreuz war es, sondern ein Ring. Ein schmaler goldener Fingerring in der Form einer zusammengerollten Schlange mit zwei roten Splittern als Augen. Ein alter Ring, sehr alt, denn der fein geformte Kopf und die Schuppen waren abgegriffen und glatt, und der Ring selbst war hauchdünn geworden.
    Humilis betrachtete das kleine und doch so wichtige Ding und konnte nicht den Blick abwenden. Die Lampe zitterte in seiner Hand, und er stellte sie vorsichtig und doch rasch auf ihren Platz zurück, aus Angst, er könnte einen Tropfen heißes Öl auf den nackten Hals oder den ausgestreckten Arm verschütten und Fidelis aus dem Vergessen schrecken, in dem er endlich versunken war, auch wenn er keine wirkliche Ruhe fand. Nun wußte er alles, zum Guten wie zum Schlechten, alles, was es zu wissen gab, nur nicht,

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