Ein Ganz Besonderer Fall
immer so bleiben würde.
Er hatte den gemessenen mönchischen Schritt gelernt, doch nicht den Seelenfrieden, der zu ihm gehören sollte. Wenn er die Augen senkte und in den schützenden Ärmeln der Kutte die Hände vor dem Bauch faltete, konnte er in diesen Mauern gehen, wohin er wollte, und wurde als einer von vielen nicht besonders beachtet. Er wußte, wohin man Fidelis geschickt hatte, und folgte ihm nun. Er saß sicher auf der Bank, die der rechtmäßige Besitzer hätte mit ihm teilen müssen, vor sich das Pergamentpapier auf dem Schreibtisch, die kleinen Töpfe mit Farben daneben aufgestellt, um sich der Arbeit zu widmen, die Humilis begonnen und ihn zu vollenden gebeten hatte.
Am jenseitigen Ende des Skriptoriums im Kreuzgang, direkt unter der Südmauer der Kirche, übte der Vorsänger Bruder Anselm ein neues Lied mit seiner kleinen Handorgel, eine Folge von einem halben Dutzend Noten, die er ein ums andere Mal wiederholte, gleich einem begeisterten Vogelruf, süß und traurig. Einer der Schuljungen war bei ihm und erhob sorglos die Stimme, wie es begabte Kinder eben tun, die sich darüber wundern, daß die Älteren soviel Aufhebens um Dinge machen, die von selbst und mühelos geschehen. Urien verstand nicht viel von Musik, doch er fühlte sie so scharf wie alles andere. Sie drang in sein Fleisch wie ein Schwarm kleiner Pfeile. Der Junge sang reiner und schöner als jedes Instrument und wußte dabei nicht, daß sich anderen das Herz im Leibe umdrehte. Er hätte lieber mit seinen Kameraden draußen in der Gaye gespielt.
Die Nischen des Skriptoriums waren tief, und die steinernen Trennwände hielten den Schall ab. Fidelis hatte seinen Schreibtisch herumgezogen, damit er halb im Schatten saß, während das volle Sonnenlicht auf sein Blatt fiel. Seine linke Seite war zur Sonne gewandt, so daß seine Hand bei der Arbeit keinen Schatten warf. Die geringelte Ranke, die ihm als Vorlage für die Ausschmückung eines großen ›M‹ diente, welkte rasch in der Hitze. Er arbeitete mit ruhiger Hand und einem sehr feinen Pinsel, zog die zarten Ranken des Stiels nach und besetzte sie mit hellen, strahlenden Blüten, die zerbrechlich waren wie Spinnweben. Als der singende Junge aus der Unterrichtsstunde entlassen wurde und hüpfend vorbeirannte, hob Fidelis nicht einmal den Kopf. Als Urien einen langen Schatten warf, der nicht weiterzog, hielt die Hand mit dem Pinsel einen Moment inne und nahm dann die gleichmäßigen, langen Striche wieder auf, und immer noch hob Fidelis nicht den Kopf. Und nun wurde Bruder Urien klar, daß Fidelis ihn erkannt hatte. Denn bei jedem anderen als ihm hätte der stumme Bruder kurz aufgeblickt, und vielen anderen Brüdern hätte er ein Lächeln geschenkt. Aber wie konnte er ihn erkennen, ohne aufzublicken? Durch ein Schweigen, das so lastend war wie sein eigenes? Oder durch einen Stich, der durch sein Fleisch ging und seine Nackenhaare aufrichtete, wenn dieser eine Mann in seine Nähe kam?
Urien trat in die Nische neben Fidelis’ Schulter und betrachtete das kunstvolle ›M‹, dem noch die letzten Goldfäden fehlten. Und er betrachtete aufmerksam das kurze Stück der Silberkette, das über den Falten der nach hinten gestreiften Kapuze und des Kragens zu sehen war und durch die kurzen rostroten Nackenhaare lief. Ein Kreuz, so lang wie ein kleiner Finger an einer Halskette, besetzt mit gelben, grünen und purpurnen Steinen… er hätte einen Finger unter die Kette schieben und sie herausziehen können, doch er berührte Fidelis nicht. Er hatte gelernt, daß eine Berührung Zauberei war und sie voneinander trennte und eine kalte Distanz zwischen ihnen erzeugte.
»Fidelis«, sagte er mit einer leisen, sehnsüchtigen Stimme, »du weichst mir aus. Warum tust du das? Ich kann dir der treueste Freund sein, den du je hattest, wenn du mich nur läßt.
Was könnte es geben, das ich nicht für dich tun könnte? Und du brauchst einen Freund, da du Geheimnisse hütest und so sprachlos bist. Laß mich eintreten, Fidelis…« Er sagte nicht ›Bruder‹. Dieses Wort war ein Titel, der seinen Sehnsüchten zuwiderlief, eine freundliche Anrede, die Geist und Seele nicht erschütterte. »Laß mich ein, und ich kann dir alles sein, was du an Liebe und Treue brauchst. Bis zum Tod!«
Fidelis legte behutsam den Pinsel fort und legte beide Hände an die Tischkante, als wollte er sich beim Aufstehen abstützen.
Sein Körper spannte sich, und er hielt den Atem an. Urien sprach drängend und hastig weiter.
»Du
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