Ein ganz besonderer Sommer
Zottel wusste aus Erfahrung, dass Zweibeiner, die solche Geräusche von sich gaben, einem nur gefährlich wurden, wenn man sie anstieß oder etwas auf sie fallen ließ. Weder das eine noch das andere hatte er die Absicht zu tun. Er wollte baden, und zwar ungestört.
Allerdings trabten jetzt ein paar Strandläufer vorüber, es war besser, er machte sich möglichst unsichtbar, bis sie sich entfernt hatten. Zottel wich bis hinter die Burg zurück, wo ihm ein schräg gestellter Sonnenschirm zusätzlichen Sichtschutz bot. Jetzt fingen die beiden Läufer an, ausgerechnet hier nach Muscheln zu suchen. Ärgerlich, das konnte dauern. Gelangweilt sah Zottel sich um. Er schnupperte. Irgendwo hier duftete es nach Gebäck. Kuchen oder Kekse vermutlich. Mit Schokolade. Außerdem Äpfel. Zottel reckte den Hals und trat neugierig näher. Richtig! Er hatte sich nicht getäuscht. In einem zusammengerollten Kleiderbündel musste Essbares versteckt sein, wohl damit es in der Hitze nicht verdarb. Aber wie sollte er an die verheißungsvolle Beute kommen, ohne den Schnarchenden zu wecken? Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das ganze Kleiderbündel, das zwischen Sandwall und Sonnenschirm lag, vorsichtig herauszuheben und sich damit in ein sicheres Versteck zurückzuziehen.
Zottel zögerte nicht lange. Seine volle Konzentration war darauf gerichtet, das Kleiderbündel möglichst geräuschlos an sich zu bringen. Der Rückzug würde dagegen ein Kinderspiel sein. Geschickt packte Zottel das mit einem Gürtel verschnürte Bündel und hob es Zentimeter für Zentimeter hoch. Hinter dem Schirm seufzte der Schlafende tief. Zottel hielt einen Moment inne. Der Schläfer drehte sich auf die andere Seite und schnarchte weiter. Jetzt beschleunigte Zottel die Aktion, hob das Bündel schwungvoll über den Rand der Burg, wobei er ein Stück der Mauer abtrug, und trabte in Richtung der Dünen, um im Sichtschutz der Sträucher seine Beute zu verspeisen.
Doch schon auf halber Strecke musste er eine Vollbremsung einlegen. Oben auf dem Dünenweg rannten Bille und Mini. Sie folgten offensichtlich den Spuren seiner Hufe, denn sie blickten nicht hoch. Zottel drehte auf der Hinterhand um und raste zum Strand zurück. Er musste die anderen Pferde erreichen, ehe sie ihn entdeckt hatten, um Zeit für seine Kuchenmahlzeit zu gewinnen. Im nassen Sand in Ufernähe kam er schnell voran, und die auflaufenden Wellen verwischten seine Spuren. Zottel schlug einen Haken und galoppierte davon.
„Da!“, keuchte Bille. „Da unten! Er läuft zurück. Los, hinterher!“
„Was hat er denn da im Maul?“, schnaufte Mini hinter ihr.
„Wie ich ihn kenne, einen Rucksack voller Proviant.“
Bille blieb einen Augenblick stehen, um Luft zu holen. Dabei fiel ihr Blick auf die Burg des dicken Mannes, der sie vorhin so wütend angemotzt hatte. Bille sah Mini an und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Dann zeigte sie auf die Sandburg, die auf der Rückseite eingerissen war. Dahinter waren deutliche Schleifspuren zu erkennen. Mini verstand.
„Das Ekel?“, wisperte sie. „Geschieht ihm ganz recht.“
„Los, wir müssen Zottel erwischen und ihm seine Beute abjagen.“ Mit frischer Kraft rannten sie hinter ihm her.
Zottel merkte, dass es eng wurde. Hinter ihm Bille und Mini, weiter vorn stellte sich Tom ihm in den Weg. Er drehte ab und stand gleich darauf bis zur Brust im Wasser. Das Bündel sog sich voll und wurde schwer und schwerer. Bedauernd ließ Zottel es fallen und sah ratlos abwechselnd aufs Meer hinaus und zum Strand hinüber. Schwimmen oder aufgeben, das war hier die Frage.
„Zottel! Zottelchen! Komm her, mein Kleiner! Komm, Junge!“
Es hörte sich nicht so an, als sei Bille sauer. Eher im Gegenteil, als müsse sie sich ständig das Lachen verkneifen. Jetzt kam sie auf ihn zu. Zottel prustete. Er wartete, bis Bille bei ihm war und ihm die Arme um den Hals schlang. Nein, sie war nicht ärgerlich. Sic streichelte ihn so hingebungsvoll , als wäre er gerade vor dem Ertrinken gerettet worden. Hinter ihr kamen Tom und Bettina heran. Sie begannen, nach der untergegangenen Beute zu suchen. Die interessierte ihn jetzt nicht mehr, sollten sie sie ruhig nehmen. Zottel stapfte in aller Ruhe neben Bille ans Ufer.
Sekunden später waren Bettina und Tom neben ihnen.
„Bille, wir sollten hier ganz schnell abhauen“, sagte Bettina leise. „Unser Picknick werden wir woanders halten. Frag nicht, beeil dich. Tom gibt uns Rückendeckung.“
Das hörte sich dramatisch an.
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