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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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halten. Ich war so in meine Gedanken versunken, dass ich den beiden nicht mehr zuhörte.
    «… es ist sehr gut, dass Sie über den Berg sind, wie man so sagt. Ich weiß, wie schwer es ist, wenn man sein Leben unter anderen Gegebenheiten ganz neu ausrichten muss.»
    Ich betrachtete die Reste meines gedünsteten Lachses. Ich hatte noch nie jemanden so mit Will sprechen hören.
    Er runzelte die Stirn und sah auf den Tisch, dann wandte er sich ihr wieder zu. «Ich weiß nicht, ob ich über den Berg bin», sagte er leise.
    Sie schaute ihn einen Moment schweigend an und ließ ihren Blick dann zu mir wandern.
    Ich fragte mich, ob mich mein Gesichtsausdruck verriet.
    «Alles dauert seine Zeit, Will», sagte sie und legte ihm kurz die Hand auf den Arm. «Und Ihrer Generation fällt es schwerer, sich mit so etwas abzufinden. Sie sind mit dem Anspruch aufgewachsen, alles, was Sie wollen, praktisch augenblicklich zu bekommen. Sie alle haben den Anspruch, das Leben zu leben, das Sie sich selbst ausgesucht haben. Ganz besonders ein erfolgreicher junger Mann wie Sie. Aber alles braucht seine Zeit.»
    «Mrs. Rawlinson – Mary –, ich rechne nicht damit, wieder gesund zu werden.»
    «Ich spreche auch nicht von dem körperlichen Aspekt», sagte sie. «Ich spreche davon, dass man lernen kann, ein neues Leben anzunehmen.»
    Und dann, als ich darauf wartete, was Will dazu sagen würde, klopfte jemand laut mit einem Löffel an sein Glas, und die Gespräche verebbten für die Hochzeitsreden.
    Ich bekam kaum mit, was gesagt wurde. Mir erschienen die Redner wie eine austauschbare Abfolge von eingebildeten Frackträgern, die von Orten und Menschen sprachen, die ich nicht kannte, und höfliches Lachen auslösten. Ich kaute dabei an den Trüffeln aus Zartbitterschokolade, die in Silberkörbchen auf die Tische gestellt worden waren, und trank schnell hintereinander drei Tassen Kaffee, sodass ich nicht mehr nur betrunken, sondern auch noch kribbelig und aufgedreht war. Will dagegen war unfassbar ruhig. Er saß da, schaute zu, wie die Gäste seiner Ex-Freundin applaudierten, und hörte sich Ruperts endlose Ausführungen darüber an, was für eine perfekte, wundervolle Frau sie doch war. Niemand erwähnte ihn. Ich weiß nicht, ob man daran ablesen konnte, dass seine Gefühle geschont werden sollten, oder dass ihnen seine Anwesenheit irgendwie peinlich war. Gelegentlich beugte sich Mary Rawlinson zu ihm, um ihm etwas ins Ohr zu murmeln, und er nickte leicht wie zur Bestätigung.
    Als die Reden endlich vorbei waren, begann eine Armee von Hilfskräften, die Mitte des Zelts für den Tanz freizuräumen. Will lehnte sich zu mir. «Mary hat mich wieder daran erinnert, dass es oben an der Straße ein sehr gutes Hotel gibt. Ruf doch dort mal an und frag, ob wir da übernachten können.»
    «Was?»
    Mary gab mir eine Serviette, auf die sie den Namen des Hotels und eine Telefonnummer geschrieben hatte.
    «Es ist okay, Clark», sagte er so leise, dass sie es nicht hören konnte. «Ich zahle. Los, mach schon, und anschließend kannst du aufhören, dir Sorgen darüber zu machen, wie viel du getrunken hast. Nimm meine Kreditkarte aus der Tasche. Sie wollen wahrscheinlich die Nummer haben.»
    Ich nahm sie, griff mir mein Handy und ging hinaus in den Garten. In dem Hotel gab es noch zwei Zimmer – ein Einzelzimmer und ein Doppelzimmer im Erdgeschoss. Ja, es hatte einen behindertengerechten Zugang. «Perfekt», sagte ich, und dann musste ich einen kleinen Aufschrei unterdrücken, als sie mir den Preis nannten. Ich gab ihnen Wills Kreditkartennummer, und mir war leicht übel, als ich die Zahlen vorlas.
    «Und?», fragte er, als ich wieder auftauchte.
    «Ich habe es gemacht, aber …» Ich sagte ihm, was die beiden Zimmer kosteten.
    «Das ist sehr gut», sagte er. «Und jetzt ruf deinen Typ an und sag ihm, dass du über Nacht wegbleibst, und anschließend trinkst du noch was. Ich hatte schon sechs Gläser. Es würde mir zu gut gefallen, wenn du dir auf Kosten von Alicias Vater einen antrinkst.»

    Also tat ich es.
    Am Abend änderte sich die Stimmung. Das Licht wurde gedämpft, sodass unser kleiner Tisch weniger auffiel, die überwältigenden Blumengerüche wurden durch die abendlichen Brisen gemildert, und die Musik und der Wein und der Tanz führten dazu, dass wir uns am unwahrscheinlichsten aller Orte tatsächlich zu amüsieren begannen. Will war so entspannt, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Er saß zwischen Mary und mir, sprach mit ihr und lächelte

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