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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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hier gewohnt? Und wo haben Sie gearbeitet?»
    «Auch nur hier.» Ich drehte mich zu ihm und verschränkte die Arme vor der Brust. «Na und? Was ist daran so komisch?»
    «Die Stadt ist so klein. So einschränkend. Und alles dreht sich nur um die Burg.» Wir blieben auf dem Weg stehen und starrten zu ihr hinauf, wie sie sich auf ihrem seltsamen, kuppelförmigen Hügel erhob, so perfekt, als stammte sie aus einer Kinderzeichnung. «Ich habe immer gedacht, das wäre ein Ort, an den die Leute irgendwann zurückkehren. Wenn sie alles andere satthaben. Oder wenn sie nicht genügend Phantasie besitzen, um es noch woanders zu versuchen.»
    «Vielen Dank auch.»
    «Das ist ja per se nichts Schlechtes . Aber … meine Güte. So richtig lebendig ist es hier nicht gerade, oder? Hier herrscht nicht unbedingt ein Überfluss an tollen Ideen oder interessanten Menschen und Möglichkeiten. Hier gilt es ja schon als revolutionär, wenn der Touristenladen Platzsets mit einem neuen Foto der Miniatur-Eisenbahn verkauft.»
    Ich musste lachen. In der Lokalzeitung hatte in der Woche zuvor genau darüber ein Artikel gestanden.
    «Sie sind sechsundzwanzig Jahre alt, Clark. Sie sollten hier raus, sollten die Welt erobern, sollten in irgendeiner Bar in Schwierigkeiten kommen, sollten Ihre seltsame Garderobe ein paar zwielichtigen Typen vorführen …»
    «Ich bin hier sehr zufrieden», sagte ich.
    «Das sollten Sie aber nicht sein.»
    «Sie erklären den Leuten gern, was sie tun sollen, oder?»
    «Nur, wenn ich weiß, dass ich recht habe», sagte er. «Können Sie mir bitte den Becher ausrichten? Ich komme nicht an den Strohhalm.»
    Ich drehte den Strohhalm um, sodass er ihn leichter erreichen konnte, und wartete, bis er etwas getrunken hatte. Die kühle Frühlingsluft hatte seine Ohrläppchen rosa gefärbt.
    Er verzog das Gesicht. «Mein Gott, für eine Frau, die vom Teekochen gelebt hat, schmeckt das wirklich erbärmlich.»
    «Das liegt daran, dass Sie nur Lesbentee gewohnt sind», sagte ich. «Dieses ganze Lapsang-Souchong-Kräuterzeug.»
    «Lesbentee!» Er verschluckte sich beinahe. «Aber der ist jedenfalls immer noch besser als diese Holzpolitur. Gott. Da bleibt ja der Löffel drin stehen.»
    «Also stimmt sogar mit meinem Tee etwas nicht.» Wir waren wieder bei der Bank angekommen, und ich setzte mich. «Wieso finden Sie es eigentlich in Ordnung, zu allem, was ich sage oder tue, einen Kommentar abzugeben, während niemand anders eine Meinung haben darf?»
    «Na dann los, Louisa Clark. Sagen Sie mir Ihre Meinung.»
    «Über Sie?»
    Er seufzte theatralisch. «Hab ich denn eine Wahl?»
    «Sie könnten sich mal um Ihre Haare kümmern. Sie sehen aus wie ein Landstreicher.»
    «Jetzt klingen Sie aber wie meine Mutter.»
    «Tja, Sie sehen schließlich auch total furchtbar aus. Sie könnten sich wenigstens rasieren. Jucken diese Bartsprossen nicht unheimlich?»
    Er sah mich aus dem Augenwinkel an.
    «Also stimmt es, oder? Ich wusste es. Gut … heute Nachmittag kommt das alles ab.»
    «O nein.»
    «Doch. Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt. Und das ist meine Antwort. Sie selbst müssen gar nichts tun.»
    «Und was ist, wenn ich nein sage?»
    «Dann mache ich es vielleicht trotzdem. Wenn Ihr Bart noch länger wird, muss ich nämlich irgendwann anfangen, Essenskrümel zwischen den Stoppeln rauszupfriemeln. Und ehrlich gesagt, wenn das passiert, muss ich Sie wegen unzumutbarer Bedingungen am Arbeitsplatz verklagen.»
    Er lächelte. Es klingt vielleicht ein bisschen komisch, aber Will lächelte so selten, dass mir beinahe ein bisschen schwindelig wurde vor Stolz, wenn ich ihn dazu gebracht hatte.
    «Sagen Sie mal, Clark», sagte er. «Würden Sie mir einen Gefallen tun?»
    «Was denn?»
    «Kratzen Sie mich doch mal am Ohr, geht das? Es juckt zum Verrücktwerden.»
    «Und wenn ich es tue, lassen Sie sich dann von mir die Haare schneiden? Nur ein bisschen die Spitzen nachschneiden, wissen Sie?»
    «Strapazieren Sie Ihr Glück nicht zu sehr.»
    «Schsch. Machen Sie mich nicht nervös. Ich kann auch so schon nicht besonders gut mit der Schere umgehen.»

    Ich fand das Rasiermesser und etwas Rasierschaum im Badezimmerschrank, ziemlich weit hinten zwischen den Päckchen mit Feuchttüchern und Watte, so als wären sie schon sehr lange nicht mehr benutzt worden. Ich rief Will ins Bad, füllte das Waschbecken mit Wasser, ließ ihn die Kopfstütze nach hinten kippen und legte ihm dann ein Handtuch übers Kinn, das ich mit warmem Wasser angefeuchtet

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