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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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hatte.
    «Was ist das denn? Wollen Sie hier einen Friseurladen aufmachen? Wozu soll das Handtuch gut sein?»
    «Ich weiß auch nicht», gab ich zu. «Das machen sie doch im Film immer. Es ist wie mit dem heißen Wasser und den Tüchern, wenn jemand ein Kind kriegt.»
    Ich sah seinen Mund unter dem Handtuch nicht, aber in seine Augen trat ein leicht erheiterter Blick. Ich wollte diesen Blick erhalten. Ich wollte, dass er glücklich war, wollte, dass sein Gesicht diesen getriebenen, wachsamen Ausdruck verlor. Ich redete drauflos. Ich erzählte Witze. Ich summte vor mich hin. Alles, um den Moment hinauszuzögern, in dem er wieder seine grimmige Miene aufsetzen würde.
    Ich krempelte die Ärmel hoch und begann, den Rasierschaum über sein Kinn und bis zu den Ohren hinauf zu verteilen. Dann zögerte ich, während ich die Klinge über seiner Kehle schweben ließ. «Ist jetzt der richtige Zeitpunkt, Ihnen zu sagen, dass ich bisher nur Beine rasiert habe?»
    Er schloss die Augen und entspannte sich. Ich begann, mit dem Rasiermesser sanft über seine Haut zu schaben. Die Stille wurde nur von dem Plätschern unterbrochen, mit dem ich die Klinge im gefüllten Waschbecken abspülte. Ich sagte nichts, musterte Will Traynors Gesicht beim Arbeiten, die Falten, die sich bis zu seinen Mundwinkeln zogen, Falten, die mir für jemanden seines Alters viel zu tief erschienen. Ich strich ihm die Haare aus dem Gesicht und sah die verräterischen Operationsnarben, die vermutlich von seinem Unfall herrührten. Ich sah die violetten Schatten unter seinen Augen, verursacht von zu vielen schlaflosen Nächten, und die senkrechte Falte zwischen seinen Augenbrauen, die von den Schmerzen sprach. Ein warmer, leicht süßer Geruch stieg von seiner Haut auf, der Geruch des Rasierschaums zusammen mit einem, der Wills ganz persönlicher Duft war, dezent und kostspielig. Langsam tauchte sein Gesicht unter dem wegrasierten Bart wieder auf, und ich konnte mir vorstellen, wie leicht es für ihn gewesen sein musste, jemanden wie Alicia für sich zu interessieren.
    Ich arbeitete langsam und vorsichtig, ermutigt von der Tatsache, dass er ganz ruhig und friedlich dasaß. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, dass Will nur noch berührt wurde, wenn es eine medizinische oder pflegerische Notwendigkeit gab, und deshalb ließ ich meine Finger ein bisschen länger auf seiner Haut liegen und bemühte mich darum, dass meine Berührungen so wenig wie möglich der routinierten Zügigkeit Nathans oder des Arztes glichen.
    Will zu rasieren war ein seltsam intimer Akt. Mir wurde klar, dass ich geglaubt hatte, der Rollstuhl wäre eine Art Barriere und Wills Behinderung würde dafür sorgen, dass auch nicht die leiseste Ahnung von Sinnlichkeit aufkam. Aber es war unmöglich, einem Menschen so nahe zu sein, die Luft einzuatmen, die er ausgeatmet hatte, sich bis auf Zentimeter über sein Gesicht zu beugen, ohne dass man ein wenig aus der Ruhe kam. Bis ich bei seinem anderen Ohr angekommen war, fühlte ich mich unwohl, als hätte ich eine unsichtbare Grenze überschritten.
    Vielleicht konnte Will die leichten Veränderungen in dem Druck deuten, den ich mit den Fingern auf seine Haut ausübte, weil er genügend Erfahrung mit den Stimmungen der Menschen in seiner Umgebung hatte. Er schlug die Lider auf und sah mir direkt in die Augen.
    Es entstand eine kurze Pause, dann sagte er mit ernster Miene: «Erzählen Sie mir bloß nicht, dass Sie mir die Augenbrauen abrasiert haben.»
    «Nur die eine», sagte ich. Und dann spülte ich das Rasiermesser ab, weil ich hoffte, dass sich das Blut aus meinen Wangen zurückgezogen hatte, wenn ich mich wieder zu ihm umdrehte. «Also», sagte ich schließlich. «Reicht es Ihnen? Müsste Nathan nicht gleich hier sein?»
    «Was ist mit meinem Haar?», fragte er.
    «Wollen Sie wirklich, dass ich es schneide?»
    «Von mir aus.»
    «Ich dachte, Sie vertrauen mir nicht.»
    Er zuckte mit den Schultern, soweit er dazu fähig war. Es war nur eine winzige Bewegung. «Wenn es dazu führt, dass Sie mir ein paar Wochen lang nicht mehr die Ohren volljammern, lohnt sich der Einsatz bestimmt.»
    «Oh, Ihre Mum wird sich unheimlich freuen», sagte ich und wischte einen letzten Klecks Rasierschaum weg.
    «Ja, das stimmt, aber davon lassen wir uns auch nicht abhalten.»

    Wir schnitten sein Haar im Wohnzimmer. Ich machte Feuer im Kaminofen, und wir ließen einen Film laufen – einen amerikanischen Thriller. Ich legte ihm ein Handtuch um die Schultern. «Ich bin ein

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