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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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sieht und hört alles Mögliche. Die unterschiedlichsten Verhaltensmuster. Sie wären erstaunt, was es da so alles gibt.»
    «Haben Sie deshalb nie geheiratet?»
    Ich blinzelte. «Vermutlich.»
    Ich wollte ihm nicht sagen, dass ich noch keinen Heiratsantrag bekommen hatte.

    Es klingt vielleicht, als hätten wir nicht besonders viel getan. Aber in Wahrheit unterschied sich jeder Tag mit Will vom anderen, das hing ganz von seiner Stimmung und noch mehr davon ab, wie viele Schmerzen er hatte. An manchen Tagen kam ich an und sah an seinen angespannten Kiefermuskeln, dass er nicht mit mir reden wollte – oder mit sonst irgendjemandem –, dann beschäftigte ich mich anderweitig und versuchte, seine Bedürfnisse vorauszuahnen, damit er mich um nichts bitten musste.
    Er hatte alle möglichen Schmerzen. Solche im ganzen Körper, die durch den Muskelabbau verursacht wurden. Obwohl Nathan mit der Physiotherapie alles versuchte, hatte Will immer weniger Muskeln, die ihn aufrecht halten konnten. Er hatte Magenschmerzen durch Verdauungsprobleme, Schmerzen in den Schultern, Schmerzen von Blaseninfektionen, die anscheinend trotz aller Bemühungen nicht zu vermeiden waren. Er hatte sogar ein Magengeschwür, weil er in der ersten Phase der Reha die Schmerzmittel wie Tic-Tacs eingeworfen hatte.
    Manchmal schmerzten ihn die Druckwunden, die entstanden, weil er zu lange in derselben Haltung im Rollstuhl saß. Einige Male musste Will im Bett liegen, damit sie heilten, aber er hasste es, auf dem Bauch zu liegen, und die ganze Zeit funkelte in seinen Augen ein kaum beherrschbarer Zorn. Außerdem hatte Will häufig Kopfschmerzen, die, so glaubte ich, von seiner ständigen Wut und Frustration verursacht wurden. Er war so voller Energie und dabei außerstande, diese Energie loszuwerden. Irgendwo suchte sie sich bestimmt ein Ventil.
    Aber das Schlimmste war ein Brennen, das er in den Händen und Füßen spürte; unaufhörlich und pulsierend verhinderte es, dass er sich auf etwas anderes konzentrieren konnte. Ich brachte ihm dann eine Schüssel mit kaltem Wasser und badete seine Hände und Füße darin, oder ich machte Umschläge mit gekühlten Handtüchern, weil ich hoffte, so seine Beschwerden zu lindern. In diesen Phasen zuckte ein Muskelstrang an seinem Kinn, und manchmal hatte ich das Gefühl, Will würde irgendwie verschwinden – sich aus seinem eigenen Körper zurückziehen, weil das die einzige Möglichkeit war, mit diesem Brennen fertigzuwerden.
    Ich hatte mich überraschend schnell an die körperlichen Bedingungen gewöhnt, unter denen Will lebte. Und ich fand es unfair, dass ihm seine Extremitäten, obwohl er sie nicht mehr gebrauchen konnte, noch so viele Schmerzen bereiteten.
    Und trotz alledem beschwerte sich Will nicht. Deshalb dauerte es Wochen, bis ich mitbekam, dass er überhaupt litt. Inzwischen konnte ich den angestrengten Zug um seine Augen deuten, das Schweigen, die Art, auf die er sich in sich selbst zurückzog. Er fragte dann nur: «Würden Sie bitte das kalte Wasser bringen, Louisa?», oder: «Ich glaube, es ist Zeit für eine Schmerztablette.» Manchmal litt er so, dass die Farbe aus seinem Gesicht wich und sein Teint fahl wie Kitt wurde. Das waren die schlimmsten Tage.
    Aber an den meisten übrigen Tagen lief es gut. Anders als am Anfang fühlte er sich nicht mehr tödlich beleidigt, wenn ich ihn ansprach. Und an diesem Tag schien er gar keine Schmerzen zu haben. Als Mrs. Traynor herauskam, um uns zu sagen, dass die Reinigungskräfte noch zwanzig Minuten brauchen würden, holte ich uns etwas zu trinken, und wir machten eine Runde durch den Garten. Will hielt sich auf dem Weg, und ich beobachtete, wie sich meine Satinpumps auf dem feuchten Gras dunkel färbten.
    «Interessante Schuhwahl», sagte Will.
    Sie waren smaragdgrün. Ich hatte sie in einem Secondhandshop entdeckt. Patrick fand, ich sähe damit aus wie eine Kobold-Dragqueen.
    «Wissen Sie, dass Sie sich überhaupt nicht anziehen, als würden Sie von hier kommen? Ich freue mich inzwischen schon richtig auf die nächste Wahnsinnskombination, in der Sie bei mir auftauchen.»
    «Und was zieht jemand an, der ‹von hier› kommt?»
    Er steuerte etwas nach links, um einem Ast auszuweichen, der über dem Weg herabhing. «Fleecejacken. Oder, wenn man zu den Kreisen meiner Mutter gehört, Twinset und Perlenkette.» Er sah mich an. «Also, woher haben Sie Ihren exotischen Geschmack? Wo haben Sie sonst noch gelebt?»
    «Nirgends.»
    «Wirklich? Sie haben immer nur

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