Ein ganzes halbes Jahr
hereinkam. «Wie geht’s?»
«Ist sie weg?»
«Wer?»
«Die Schwester.»
Er warf einen Blick über seine Schulter. «Ah. Das war also seine Schwester. Ja, die ist weg. Ist gerade mit quietschenden Reifen weggefahren, als ich ankam. Hat wohl einen Familienstreit gegeben, was?»
«Keine Ahnung», sagte ich. «Ich habe Will gerade die Haare geschnitten, und da ist diese Frau reingekommen und hat angefangen, ihn runterzumachen. Ich dachte, das wäre eine von seinen Ex-Freundinnen.»
Nathan zuckte mit den Schultern.
Mir wurde klar, dass ihn die privaten Einzelheiten aus Wills Leben nicht interessierten, selbst wenn er sie kannte.
«Er ist ziemlich still. Übrigens gut gemacht, mit der Rasur. Ist nett, ihn mal ohne all das Gestrüpp zu sehen.»
Ich ging ins Wohnzimmer. Will starrte auf den Fernsehbildschirm, auf dem noch dasselbe Standbild zu sehen war wie in dem Moment, in dem ich mich auf die Suche nach den Spiegeln gemacht hatte.
«Soll ich den Film weiterlaufen lassen?», fragte ich.
Er schien mich nicht zu hören. Sein Kopf war zwischen die Schultern gesunken, die Entspannung von vorhin einem undurchsichtigen Vorhang gewichen. Will hatte sich wieder abgekapselt, eingeschlossen hinter etwas, das ich nicht durchdringen konnte.
Dann blinzelte er, als hätte er mich jetzt erst wahrgenommen.
«Klar», sagte er.
Ich trug einen Korb Wäsche durch den Flur, als ich sie hörte. Die Tür zum Anbau stand etwas offen, und die Stimmen von Mrs. Traynor und ihrer Tochter klangen bis in die Diele. Wills Schwester schluchzte leise, aller Zorn war aus ihrem Ton verschwunden. Sie klang beinahe wie ein Kind.
«Sie müssen doch irgendetwas tun können. Es gibt doch bestimmt Fortschritte in der Medizin. Kannst du ihn nicht nach Amerika bringen? Dort sind sie doch immer weiter als hier.»
«Dein Vater verfolgt alles, was sich tut, ganz genau. Aber … Liebling, es gibt nichts … Konkretes.»
«Er ist so … anders geworden. Es ist, als wäre er wild entschlossen, überhaupt nichts Gutes mehr an irgendetwas zu sehen.»
«So war er zu Hause von Anfang an, George. Ich glaube, es liegt einfach daran, dass du ihn nicht mehr gesehen hast, seit du zurückgeflogen bist. Davor war er noch … willensstark, glaube ich. Davor war er noch überzeugt, dass sich etwas verbessern würde.»
Ich fühlte mich unbehaglich, weil ich eine so private Unterhaltung belauschte. Trotzdem zog mich der merkwürdige Tonfall des Gesprächs an. Ich ging noch näher an die Tür, unhörbar, weil ich nur Socken an den Füßen hatte.
«Weißt du, Daddy und ich haben dir nichts davon gesagt. Wir wollten nicht, dass du dir Sorgen machst. Aber er hat versucht …» Sie kämpfte mit den Worten. «Will hat versucht … sich umzubringen.»
«Was?»
«Daddy hat ihn gefunden. Es war im Januar. Es war … es war schrecklich.»
Obwohl das nur meine Ahnungen bestätigte, spürte ich, dass ich blass wurde. Ich hörte einen erstickten Aufschrei, eine geflüsterte Beruhigung. Es folgte ein langes Schweigen. Und dann sagte Georgina mit tränenerstickter Stimme: «Und die Frau …»
«Ja. Louisa ist hier, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert.»
Ich erstarrte. Am anderen Ende des Flurs hörte ich leises Gemurmel aus dem Badezimmer, wo sich Nathan und Will unterhielten und glücklicherweise nicht mitbekamen, was ein paar Meter von ihnen entfernt besprochen wurde. Ich ging noch näher zu der Tür. Im Grunde wusste ich es, seit ich die Narben an seinen Handgelenken gesehen hatte. Das erklärte alles – Mrs. Traynors Angst, dass ich Will zu lange allein lassen könnte, seinen Widerwillen gegen meine Anwesenheit, die Tatsache, dass ich oft das Gefühl hatte, es gäbe überhaupt nicht genügend Arbeit, um meine Anstellung zu rechtfertigen. Ich war als Babysitter eingesetzt worden. Ich hatte das nicht gewusst, Will aber schon, und dafür hatte er mich gehasst.
Ich streckte die Hand nach der Türklinke aus, um sie leise ins Schloss zu ziehen. Ich fragte mich, ob Nathan darüber Bescheid wusste. Ich fragte mich, ob Will inzwischen ein bisschen glücklicher war. Mir wurde klar, dass es mich erleichterte – selbstsüchtig, ich weiß –, dass nicht ich es war, gegen die Will etwas hatte, sondern einfach gegen die Tatsache, dass ich – und es hätte auch irgendwer sonst sein können – als Aufpasserin angestellt worden war. Es arbeitete so heftig in meinem Kopf, dass ich beinahe die Fortsetzung des Gesprächs verpasste.
«Du darfst ihn das
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