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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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hinaus, um den Wagen zu wenden.

    Ich hatte mir alles in leuchtenden Farben ausgemalt. Wir würden an einem strahlenden Sonnentag zur Pferderennbahn fahren. Dort würden wir die gestriegelten, dünnbeinigen Vollblüter sehen, die mit ihren Jockeys in Blousonjacken aus Seide vorbeigaloppierten. Vielleicht gab es auch eine Blaskapelle oder zwei. Die Tribüne wäre voller jubelnder Leute, und wir würden einen Platz finden, von dem aus wir unsere Wettzettel schwenken konnten. Will würde der Ehrgeiz packen, und er würde automatisch anfangen, die Gewinnchancen zu berechnen und mehr gewinnen wollen als Nathan oder ich. So hatte ich es mir vorgestellt. Und dann, wenn wir genug von den Pferden hätten, würden wir in das renommierte Rennbahn-Restaurant gehen und richtig feudal essen.
    Ich hätte auf meinen Vater hören sollen. «Willst du wissen, was die Definition für den Sieg der Hoffnung über die Erfahrung ist?», hatte er schon mehr als einmal gesagt. «Dann plan einen netten Familienausflug.»
    Es begann mit dem Parkplatz. Wir kamen ohne Zwischenfälle dort an, weil ich inzwischen etwas mutiger war und nicht mehr glaubte, ich würde Will womöglich mit seinem Rollstuhl zum Umkippen bringen, wenn ich schneller als zwanzig Stundenkilometer fuhr. Ich hatte mir die Strecke in der Bibliothek angesehen und machte auf dem ganzen Weg Scherze, kommentierte den wundervoll blauen Himmel, die Landschaft, den spärlichen Verkehr. Am Eingang der Rennbahn gab es keine Schlange, was ich zugegeben ein bisschen weniger großartig als erwartet fand, und der Weg zum Parkplatz war gut ausgeschildert.
    Aber niemand hatte mir gesagt, dass er aus einer Wiese bestand, und zwar aus einer Wiese, über die in einem ziemlich feuchten Winter eine Menge Autos gefahren waren. Wir parkten (das war einfach, weil der Parkplatz nur halb voll war), und in beinahe demselben Augenblick, in dem die Rampe heruntergelassen war, bekam Nathan einen besorgten Gesichtsausdruck.
    «Das ist zu weich hier», sagte er. «Der Rollstuhl wird einsinken.»
    Ich sah zu der Tribüne hinüber. «Aber wenn wir es bis zu diesem gepflasterten Weg dort schaffen, ist doch alles klar.»
    «Der Stuhl wiegt eine Tonne», sagte er. «Und bis zu dem Weg sind es mindestens fünfzehn Meter.»
    «Oh, jetzt kommen Sie schon. Diese Stühle müssen doch wohl so konstruiert sein, dass man damit über ein bisschen weichen Boden kommt.»
    Ich rollte den Stuhl mit Will vorsichtig von der Rampe und sah dann zu, wie er mehrere Zentimeter tief in den Schlamm einsank.
    Will sagte nichts. Er schaute nicht gerade glücklich, und er hatte fast die gesamte Autofahrt über geschwiegen. Wir standen neben ihm und probierten an der Lenkautomatik des Rollstuhls herum. Eine Brise war aufgekommen, und Wills Wangen wurden rosig.
    «Los», sagte ich. «Wir schieben. Ich bin sicher, dass wir es zu zweit bis dorthin schaffen.»
    Wir kippten den Stuhl leicht zurück. Ich nahm einen Griff und Nathan den anderen, und dann zerrten wir den Rollstuhl in Richtung des Weges. Wir kamen nur langsam voran, auch deshalb, weil ich öfter mit schmerzenden Armen stehen bleiben musste. Meine ehemals makellosen Stiefel waren bald mit Schlamm verklebt. Als wir endlich den Weg erreichten, war Wills Decke halb heruntergerutscht und hatte sich irgendwie in den Reifen verfangen, sodass eine Ecke zerrissen und schmutzig war.
    «Halb so wild», sagte Will trocken. «Ist ja nur Kaschmir.»
    Ich ging nicht darauf ein. «So. Wir haben es geschafft. Und jetzt kommt der unterhaltsame Teil.»
    Ach ja. Der unterhaltsame Teil. Wer hat sich eigentlich einfallen lassen, dass man auf einer Pferderennbahn Drehkreuze braucht? Personenkontrollen waren hier nicht notwendig. Schließlich gab es keine grölenden Fanhorden, die mit Randale drohten, falls Charlie’s Darling nicht den dritten Platz machte, und auch keine kreischenden Stallmädchen, die eingepfercht oder draußen gehalten werden mussten. Wir sahen das Drehkreuz an und dann wieder Wills Stuhl, und dann sahen Nathan und ich uns gegenseitig an.
    Nathan ging zum Kartenschalter und erklärte der Frau unser Problem. Sie streckte den Kopf vor, um Will anzuschauen, dann deutete sie auf das andere Ende der Tribüne.
    «Der Behinderteneingang ist dahinten», sagte sie.
    Sie sagte Behinderteneingang , als würde sie an einem Artikulationswettbewerb teilnehmen. Der Eingang war fast zweihundert Meter entfernt, und bis wir es endlich dorthin geschafft hatten, war der blaue Himmel von einem

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