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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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dauerte ein paar Sekunden, bis ich das Ding durchgebissen hatte, und ich schloss die Augen, versuchte, den männlichen Geruch zu ignorieren, das Gefühl von seiner Haut auf meiner und mein unangemessenes Benehmen. Und dann hatte ich es endlich geschafft. Ich zog meinen Kopf zurück, öffnete die Augen und sah ihn, das Plastikstück zwischen den Zähnen, triumphierend an.
    «Geschafft!», sagte ich, nachdem ich das Plastikteilchen von meinen Zähnen geklaubt und über die Sitzreihe hatte wegschnippen lassen.
    Will starrte mich an.
    «Was?»
    Ich drehte mich auf meinem Platz um, damit ich die Leute im Publikum erwischte, die ihr Programmheft plötzlich unglaublich faszinierend fanden. Dann wandte ich mich wieder Will zu.
    «Oh, jetzt kommen Sie schon, es ist ja schließlich nicht so, als hätten diese Leute noch nie eine Frau am Kragen eines Kerls rumknabbern sehen.»
    Damit hatte ich ihn anscheinend erst einmal zum Schweigen gebracht. Er blinzelte ein paarmal, als wollte er den Kopf schütteln. Amüsiert stellte ich fest, dass sein Hals dunkelrot angelaufen war.
    Ich zog mein Kleid über den Knien zurecht. «Wie dem auch sei», sagte ich, «ich glaube, wir sollten einfach beide dankbar dafür sein, dass dieses Plastikding nicht in Ihrer Hose war.»
    Und dann, ehe er etwas sagen konnte, kamen die Musiker in ihren Dinnerjacketts und Cocktailkleidern auf die Bühne, und im Zuhörerraum wurde es leise. Obwohl ich nichts für Klassik übrighatte, überlief mich ein Schauer der Aufregung. Ich legte die Hände in den Schoß und setzte mich gerade hin. Sie begannen die Instrumente zu stimmen, und plötzlich war der ganze Konzertsaal von einem einzigen Ton erfüllt – dem lebendigsten, dreidimensionalsten Ton, den ich je gehört hatte. Ich bekam Gänsehaut und hielt die Luft an.
    Will warf mir einen Seitenblick zu, die Belustigung immer noch im Gesicht. Okay , sagte seine Miene. Wir werden diesen Abend genießen.
    Der Dirigent trat vor das Orchester, klopfte zweimal an sein Pult, und es wurde vollkommen still. Ich fühlte diese Stille geradezu, das Publikum hinter mir, die gespannte Erwartung. Dann senkte er seinen Taktstock, und auf einmal war alles reiner Klang. Ich empfand die Musik wie etwas Körperliches, sie war nicht nur in meinen Ohren, sie floss durch mich hindurch, umspülte mich, ließ meine Sinne vibrieren. Meine Haut prickelte, und meine Handflächen wurden feucht. Von alldem hatte mir Will nichts erzählt. Ich hatte gedacht, ich würde mich vielleicht langweilen. Aber es war das Wundervollste, was ich je gehört hatte.
    Und es führte meine Phantasie auf ganz unerwartete Pfade. Als ich dort saß, fielen mir auf einmal Sachen ein, an die ich seit Jahren nicht gedacht hatte, vergessene Gefühle kamen hoch, neue Vorstellungen und Ideen stiegen in mir auf, als hätte sich plötzlich meine Wahrnehmungsfähigkeit erweitert. Es war beinahe zu intensiv, aber ich wollte auch nicht, dass es aufhört. Ich wollte für alle Ewigkeit dort sitzen. Verstohlen sah ich Will an. Er war völlig versunken, ganz unbefangen. Ich wandte den Blick ab, scheute mich mit einem Mal, ihn anzusehen. Ich fürchtete mich davor, seine Gefühle zu spüren, das Ausmaß dessen, was er verloren hatte, das Ausmaß seiner Ängste. Will Traynors Leben war so weit von meinen Erfahrungen entfernt. Wer war ich, ihm zu erklären, wie er sein Leben leben sollte?

    Wills Freund hatte uns eine Nachricht hinterlegt, mit der er uns nach dem Konzert hinter die Bühne einlud, aber Will wollte nicht. Ich versuchte kurz, ihn zu überreden, aber ich sah an seinem angespannten Kiefer, dass er sich nicht umstimmen lassen würde. Das konnte ich ihm auch nicht zum Vorwurf machen. Ich wusste noch zu genau, wie ihn sein ehemaliger Kollege angeschaut hatte – mit dieser Mischung aus Mitleid und Widerwillen und irgendwo auch mit Erleichterung, weil nicht er es war, dem das Schicksal so übel mitgespielt hatte. Ich vermutete, dass Will solche Begegnungen kaum verkraftete.
    Wir warteten, bis sich der Saal geleert hatte, dann schob ich ihn hinaus und auf den Parkplatz und bekam ihn ohne Zwischenfälle mit der Rampe in den Wagen. Ich sagte nicht viel; in meinem Kopf klang immer noch die Musik nach, und ich wollte nicht, dass sie aufhörte. Ich dachte an Wills Freund auf der Bühne, der vollkommen in dem aufgegangen war, was er spielte. Ich hatte nicht gewusst, dass Musik etwas in einem freisetzen konnte, einen an Orte bringen konnte, die nicht einmal der Komponist

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