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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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vorhergesehen hatte. Sie hinterließ einen Abdruck in der Luft um einen herum, als würde man ihren Nachhall mitnehmen, wohin man auch ging. Eine Zeitlang hatte ich, während wir im Publikum saßen, Wills Anwesenheit neben mir völlig vergessen.
    Wir hielten beim Anbau. Vor uns, gerade noch sichtbar über der Wallmauer, war die Burg, vom Mond wie mit Flutlicht angestrahlt, und es sah aus, als würde sie heiter und gelassen von ihrem Hügel herabblicken.
    «Sie haben also nichts für klassische Musik übrig.»
    Ich sah in den Rückspiegel. Will lächelte.
    «Ich habe es kein bisschen genossen.»
    «Das habe ich bemerkt.»
    «Und ganz besonders nicht die Stelle gegen Ende, an der die Geige allein gespielt hat.»
    «Ja, es ist mir aufgefallen, dass Sie diese Stelle nicht gemocht haben. Sie hatten ja sogar Tränen in den Augen, so ekelhaft fanden Sie sie.»
    Ich grinste ihn an. «Es war phantastisch», sagte ich. «Möglicherweise mag ich nicht die ganze klassische Musik, aber dieses Stück war unglaublich.» Ich rieb mir über die Nase. «Danke. Danke, dass Sie mich mitgenommen haben.»
    Schweigend saßen wir da und betrachteten die Burg. Normalerweise lag sie nachts im orangefarbenen Abglanz der Straßenlampen um die Festungsmauer. Aber in dieser Vollmondnacht schien sie in ätherisch zarter Bläue zu schwimmen.
    «Was meinen Sie, welche Musik wurde dort gespielt?», sagte ich. «Sie müssen doch damals auch Musik gehabt haben.»
    «Auf der Burg? Mittelalterliche Sachen. Lauten, Streichinstrumente. Nicht mein Fall, aber ich habe ein paar CDs, die ich Ihnen leihen kann, wenn Sie möchten. Sie sollten mit Kopfhörern übers Burggelände gehen, um einen richtigen Eindruck zu bekommen.»
    «Nein. Ich gehe eigentlich nie zur Burg.»
    «So ist es immer, wenn man irgendwo direkt daneben wohnt.»
    Ich machte eine unverbindliche Bemerkung. Wir saßen noch ein bisschen da, hörten, wie der Motor mit einem Ticken abkühlte.
    «So», sagte ich dann und löste meinen Sicherheitsgurt. «Wir bringen Sie besser rein. Das Abendprogramm wartet auf uns.»
    «Warten Sie noch eine Minute, Clark.»
    Ich drehte mich zu ihm um. Wills Gesicht lag im Schatten, und ich konnte ihn nicht deutlich sehen.
    «Warten Sie noch. Nur eine Minute.»
    «Alles in Ordnung?» Ich ließ meinen Blick an seinem Stuhl hinabwandern, fürchtete, dass er irgendwo eingeklemmt war oder festhing und dass ich etwas falsch gemacht hatte.
    «Es geht mir gut. Ich will einfach …»
    Sein Hemdkragen hob sich hell von dem dunklen Jackett ab.
    «Ich will einfach noch nicht hineingehen. Ich will einfach hier sitzen und nicht daran denken …» Er schluckte.
    Sogar im Halbdunkel wirkte dieses Schlucken mühsam.
    «Ich will einfach … ein Mann sein, der mit einem Mädchen in einem roten Kleid im Konzert war. Dieser Mann will ich einfach noch ein paar Minuten länger sein.»
    Ich ließ den Türgriff los.
    «Klar.»
    Ich schloss die Augen und ließ den Kopf an die Kopfstütze zurücksinken. Und so saßen wir noch eine Weile, zwei Menschen, die der Musik nachträumten, halb verborgen in den Schatten einer Burg auf einem mondbeschienenen Hügel.

    Meine Schwester und ich hatten eigentlich nie richtig über das geredet, was in dieser Nacht im Labyrinth passiert war. Ich glaube, uns fehlten die Worte dafür. Sie hatte mich eine Zeitlang in den Armen gehalten, dann mit mir nach meinen Kleidungsstücken gesucht und so lange vergebens im hohen Gras nach meinen Schuhen Ausschau gehalten, bis ich ihr sagte, sie solle es seinlassen. Ich hätte diese Schuhe ohnehin nie wieder getragen. Und dann gingen wir langsam nach Hause – ich barfuß und sie bei mir eingehängt, so waren wir nicht mehr gegangen, seit sie in der ersten Klasse gewesen war und Mum darauf bestanden hatte, dass ich sie nie losließ.
    Als wir zu Hause ankamen, standen wir einen Moment auf der Veranda, und sie strich mir die Haare glatt, wischte mir mit einem feuchten Taschentuch über die Augen, und dann schlossen wir die Tür auf und gingen hinein, als wäre nichts gewesen.
    Dad war noch auf und sah sich ein Fußballspiel an. «Ihr kommt ziemlich spät», rief er. «Ich weiß, dass Freitag ist, aber trotzdem …»
    «Okay, Dad», riefen wir im Chor.
    Damals hatte ich das Zimmer, in dem jetzt Großvater wohnt. Ich ging schnell hinein, und bevor meine Schwester noch etwas sagen konnte, zog ich die Tür hinter mir zu.
    In der Woche darauf schnitt ich mir die Haare kurz. Ich stornierte meinen Flug. Ich traf mich nicht mehr

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