Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
Vom Netzwerk:
aber beide hatten gemeint, ich sollte mich an meinem Geburtstag mal ein bisschen entspannen. Tja, das konnten sie nur sagen, weil sie meine Eltern nicht kannten.

    Um Punkt halb acht öffnete ich Will und Nathan die Tür. Will trug sein elegantes Hemd und ein Jackett. Ich wusste nicht, ob ich mich über diesen Aufwand freuen oder mir eher darüber Gedanken machen sollte, dass Mum jetzt die ersten beiden Stunden des Abends damit verbringen würde, sich zu fragen, ob sie sich nicht schick genug angezogen hatte.
    «Hallo auch.»
    Mein Dad tauchte im Flur hinter mir auf. «Herein, herein. War die Rampe okay, Jungs?» Er hatte den gesamten Nachmittag damit verbracht, aus Spanplatten eine Rampe für die Außentreppe zu bauen.
    Nathan manövrierte Wills Rollstuhl vorsichtig in unseren engen Flur. «Die war sehr gut», sagte Nathan, als ich die Tür hinter ihm zumachte. «Hab in manchem Krankenhaus schon Schlechteres gesehen.»
    «Bernard Clark.» Mein Vater gab Nathan die Hand und streckte sie dann automatisch Will entgegen, bevor er sie peinlich berührt wieder wegzog, als ihm einfiel, dass ihm Will nicht die Hand schütteln konnte. «Bernard. Entschuldigung, hmm … ich weiß nicht, wie ich einen … Ich kann Ihnen nicht die Hand …», stotterte er.
    «Ein Hofknicks wäre auch okay.»
    Dad starrte ihn an, und dann, als er begriff, dass Will einen Scherz gemacht hatte, lachte er vor Erleichterung. «Hah!», sagte er und klopfte Will auf die Schulter. «Klar. Ein Hofknicks. Der war gut. Hah!»
    Damit war das Eis gebrochen. Nathan verabschiedete sich mit einem Winken, und ich schob Will in die Küche. Mum hatte glücklicherweise eine Auflaufform in den Händen, sodass sie um das Problem mit dem Händeschütteln herumkam.
    «Mum, das ist Will. Will, Josephine.»
    «Josie, bitte.» Sie strahlte ihn an, die langen Topfhandschuhe reichten ihr beinahe bis zum Ellbogen. «Wie schön, Sie endlich kennenzulernen, Will.»
    «Sehr erfreut», sagte er. «Bitte, lassen Sie sich nicht stören.»
    Sie stellte die Auflaufform ab und strich sich die Frisur glatt, und das ist bei meiner Mutter immer ein gutes Zeichen. Schade nur, dass sie vergessen hatte, die Topfhandschuhe vorher auszuziehen.
    «Entschuldigung», sagte sie. «Es gibt Brathähnchen. Dabei geht es immer um genaues Timing, wissen Sie?»
    «Eigentlich nicht», sagte Will. «Ich kann nicht kochen. Aber ich liebe gutes Essen. Deshalb habe ich mich auch schon sehr auf heute Abend gefreut.»
    «Also …» Dad öffnete den Kühlschrank. «Wie machen wir das? Haben Sie einen speziellen Bier…becher, Will?»
    Dad an seiner Stelle, erklärte ich Will, hätte noch vor dem Rollstuhl einen geeigneten Bierbecher gehabt.
    «Man muss eben seine Prioritäten kennen», sagte Dad. Ich kramte in Wills Tasche, bis ich seinen Becher fand.
    «Ein Bier wäre sehr gut. Danke.»
    Er trank einen Schluck, und während ich neben ihm in der Küche stand, wurde mir auf einmal bewusst, wie klein und schäbig unser Haus war, mit den Achtziger-Jahre-Tapeten und den alten, verschrammten Küchenschränken. Wills Haus war elegant und sparsam mit schönen Möbeln eingerichtet. Bei uns dagegen sah es aus, als stammten 90 Prozent der Sachen aus einem Ramschladen, und Thomas’ eselsohrige Zeichnungen hingen überall an den Wänden. Falls Will etwas davon aufgefallen war, sagte er jedenfalls nichts dazu. Dad und er fanden schnell ein gemeinsames Gesprächsthema, nämlich meine Unfähigkeit im Allgemeinen und Besonderen. Es machte mir nichts aus. Hauptsache, die beiden unterhielten sich gut.
    «Wussten Sie, dass sie einmal rückwärts an einen Poller gefahren ist und behauptet hat, daran wäre der Poller schuld …?»
    «Sie sollten erst mal sehen, wie sie meine Rampe herunterlässt. Aus dem Wagen zu kommen, ist manchmal das reinste Skispringen.»
    Dad brach in Gelächter aus.
    Ich überließ die beiden sich selbst. Mum folgte mir besorgt aus der Küche. Sie trug ein Tablett mit Gläsern zum Esstisch und warf einen Blick auf die Uhr. «Wo bleibt denn Patrick?»
    «Er wollte direkt vom Training kommen», sagte ich. «Vielleicht ist er aufgehalten worden.»
    «Konnte er sein Training nicht mal für deinen Geburtstag ausfallen lassen? Das Hähnchen ist ungenießbar, wenn er nicht bald da ist.»
    «Mum, alles wird gut.»
    Ich wartete, bis sie das Tablett abgestellt hatte, und dann umarmte ich sie ganz fest. Sie war steif vor Anspannung. Auf einmal überflutete mich Mitleid mit ihr. Mutter zu sein war vermutlich

Weitere Kostenlose Bücher