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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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einmal genauer an. Ich hatte angefangen, regelmäßig Zeitung zu lesen. Ich hatte entdeckt, an welchen Argumenten etwas dran war und dass Journalisten gerne polemisierten.
    Die Eltern des Fußballers waren von der Boulevardpresse heftig angegriffen worden. Wie konnten sie ihn nur sterben lassen? , lautete eine der reißerischen Schlagzeilen. Ich konnte nicht anders, als mir dieselbe Frage zu stellen. Leo McInerney war vierundzwanzig. Er hatte beinahe drei Jahre mit seiner Verletzung gelebt, also nicht viel länger als Will bisher. Er war doch viel zu jung, um zu entscheiden, dass sich das Leben für ihn nicht mehr lohnte, oder? Und dann las ich den Artikel, den Will am Morgen gelesen hatte – es war keine reine Meinungsmache, sondern ein sorgfältig recherchierter Bericht über das, was im Leben des jungen Mannes geschehen war. Der Autor hatte auch mit den Eltern gesprochen.
    Leo, sagten sie, hatte Fußball gespielt, seit er drei Jahre alt war. Fußball war sein Ein und Alles. Es war bei einem Spiel passiert, er war unglücklich mit einem Gegner zusammengeprallt. Der Unfall war unbeabsichtigt und offensichtlich mehr als unwahrscheinlich gewesen. Seine Eltern hatten alles unternommen, um ihn zu ermutigen, ihm zu vermitteln, dass sein Leben immer noch einen Sinn hatte. Aber er versank in einer tiefen Depression. Er war nicht nur ein Sportler, der keinen Sport mehr betreiben konnte, er konnte sich nicht einmal mehr bewegen und manchmal auch nicht ohne Atemgerät Luft holen. Er fand an nichts mehr Freude. Sein Leben war von Schmerzen und ständigen Infekten geprägt, und er hing in allem von der Unterstützung anderer ab. Er erklärte seiner Freundin, dass er sie nicht mehr sehen wollte. Er erklärte seinen Eltern Tag für Tag, dass er nicht mehr leben wollte. Er erklärte ihnen, dass es für ihn eine unerträgliche Folter war, andere Leute das Leben oder auch nur annähernd das Leben führen zu sehen, das er sich für sich selbst vorgestellt hatte.
    Zweimal hatte er versucht, sich umzubringen, indem er so lange gehungert hatte, bis er ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Und zu Hause zurück, bettelte er seine Eltern darum an, ihn im Schlaf zu ersticken. Als ich das in der Bibliothek sitzend las, drückte ich mir die Handballen so lange auf die Augen, bis ich wieder atmen konnte, ohne zu schluchzen.

    Dad verlor seine Arbeit. Er war ziemlich tapfer. Er kam nachmittags nach Hause, zog ein frisches Hemd und eine Krawatte an und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle, um sich beim Jobcenter als arbeitssuchend zu melden.
    Er hatte schon entschieden, erklärte er Mum, dass er alles annehmen würde, auch wenn er ein begabter Handwerker mit jahrelanger Berufserfahrung war. «Ich glaube nicht, dass wir es uns im Moment leisten können, wählerisch zu sein», sagte er, ohne auf Mums Einwände zu achten.
    Aber wenn es für mich schon schwer gewesen war, Arbeit zu finden, waren die Aussichten für einen Fünfundfünfzigjährigen noch viel schlechter. Er bekomme nicht einmal einen Job als Lagerarbeiter oder Wachmann, sagte er, als er von einer seiner Bewerbungsrunden zurückkehrte. Sie stellten lieber einen unzuverlässigen Siebzehnjährigen ein als einen reifen Mann mit Berufserfahrung, weil sie dann von der Regierung einen Gehaltszuschuss für den Jungen bekamen. Nach der vierzehnten Ablehnung mussten sich Mum und Dad eingestehen, dass sie zur Überbrückung Sozialhilfe beantragen mussten, und sie verbrachten ihre Abende über unverständlichen fünfzigseitigen Antragsformularen, in denen gefragt wurde, wie viele Personen ihre Waschmaschine nutzten und wann sie das letzte Mal eine Auslandsreise gemacht hatten (Dad glaubte, das könnte so um 1988 herum gewesen sein). Ich nahm Wills Geburtstagsgeld und steckte es in die Haushaltskasse im Küchenschrank. Ich dachte, sie würden sich vielleicht ein bisschen besser fühlen, wenn sie wussten, dass sie ein kleines Polster hatten.
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war das Geld in einem Umschlag unter meiner Zimmertür durchgeschoben worden.
    Dann kamen die Touristen, und es wurde voll in unserem Städtchen. Mr. Traynor war immer seltener zu Hause; seine Arbeitszeiten verlängerten sich mit der wachsenden Zahl der Besucher in der Burg. An einem Donnerstagnachmittag sah ich ihn in der Stadt, als ich auf dem Nachhauseweg bei der Reinigung vorbeiging. Diese Begegnung war im Grunde nichts Ungewöhnliches, mit Ausnahme der Tatsache, dass er seinen Arm um eine rothaarige Frau

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