Ein ganzes halbes Jahr
gewöhnt hat.» Sie beugte sich vor. «Aber das erzählst du Mum bitte nicht. Ich habe behauptet, er hätte sich dort gleich wohl gefühlt.»
«Und die Uni gefällt dir.»
Ein Lächeln ging über Treenas Gesicht. «Das ist das Allerbeste. Ich kann es dir gar nicht beschreiben, Lou, wie toll es ist, mein Hirn wieder benutzen zu können. Es kommt mir vor, als hätte ich vor Ewigkeiten ein Riesenstück von mir verloren … und jetzt habe ich es wiedergefunden. Na ja, das war ein beschissener Vergleich.»
Ich schüttelte den Kopf. Ich freute mich für sie. Ich wollte ihr von der Bibliothek erzählen und von den Computern und von den Sachen, die ich für Will gemacht hatte. Aber dann fand ich, das sollte jetzt ihr Moment sein. Wir saßen auf Klappstühlen unter dem ramponierten Sonnenschirm und nippten an unserem Tee. Ihre Finger, fiel mir auf, hatten wieder eine ganz normale Farbe.
«Du fehlst ihr», sagte ich.
«Wir werden ab jetzt beinahe jedes Wochenende kommen. Ich musste einfach … Lou, es ging nicht nur darum, dass sich Thomas gut eingewöhnt. Ich musste einfach ein bisschen Abstand von allem haben. Ich habe Zeit gebraucht, um zu einem anderen Menschen zu werden.»
Sie sah wirklich ein bisschen aus wie ein anderer Mensch. Es war seltsam. Nur ein paar Wochen weg von zu Hause konnten jemanden unvertraut werden lassen. Es kam mir vor, als wäre sie dabei, zu einem Menschen zu werden, dessen ich mir nicht mehr sicher war. Es kam mir irgendwie so vor, als würde sie mich hinter sich lassen.
«Mum hat mir erzählt, dass dein behinderter Typ zum Essen da war.»
«Er ist nicht mein behinderter Typ. Er heißt Will.»
«Sorry. Will. Und läuft es gut mit der Anti-Grabschaufel-Liste?»
«Es geht so. Ein paar Ausflüge waren erfolgreicher als andere.» Ich erzählte ihr von der Katastrophe auf der Pferderennbahn und von dem unerwarteten Erfolg des Violinkonzerts. Dann erzählte ich von unseren Picknicks, und als ich bei meinem Geburtstagsessen angekommen war, lachte sie.
«Glaubst du …?» Ich sah, dass sie überlegte, wie sie es am besten ausdrücken konnte. «Glaubst du, dass du am Ende gewinnst?»
Als wäre das Ganze eine Art Wettbewerb.
Ich zog eine Ranke von dem Geißblatt zu mir und begann, die Blätter abzuzupfen. «Ich weiß nicht. Ich glaube, ich muss den Einsatz erhöhen.» Ich erzählte ihr, was mir Mrs. Traynor zu Auslandsreisen gesagt hatte.
«Ich fasse es trotzdem nicht, dass du bei einem Violinkonzert warst. Ausgerechnet du!»
«Es hat mir gefallen.»
Sie zog eine Augenbraue hoch.
«Nein. Wirklich, hat es. Es war … berührend.»
Sie sah mich genau an. «Mum sagt, er ist wirklich nett.»
«Er ist wirklich nett.»
«Und gutaussehend.»
«Eine Rückenmarksverletzung bedeutet nicht, dass man sich in Quasimodo verwandelt.» Bitte, sag nichts darüber, was für eine schreckliche Verschwendung das ist , bat ich sie in Gedanken.
Aber vielleicht war meine Schwester dazu doch zu schlau. «Jedenfalls war Mum eindeutig überrascht», sagte sie. «Ich glaube, Mum hatte eher mit Quasimodo gerechnet.»
«Das ist das Problem, Treen», sagte ich und goss den Rest meines Tees ins Blumenbeet. «Das tun nämlich alle Leute.»
Mum war bei diesem Abendessen sehr fröhlich. Sie hatte Lasagne gemacht, Treenas Lieblingsgericht, und Thomas durfte lange aufbleiben. Wir aßen und unterhielten uns und lachten und redeten über ungefährliche Themen wie Fußball, meine Arbeit und Treens Kommilitonen an der Uni. Mum fragte Treen bestimmt hundertmal, ob sie auch wirklich allein zurechtkam und ob sie etwas für Thomas brauchte – als hätten sie etwas übrig, das sie ihr geben könnten. Ich war froh, dass ich Treen vorher gesagt hatte, wie abgebrannt unsere Eltern waren. Also sagte sie anmutig und überzeugend nein. Ich traute mich erst später, sie zu fragen, ob das auch stimmte.
Um Mitternacht wurde ich von lautem Schluchzen geweckt. Es war Thomas in der Abstellkammer. Ich hörte, wie Treena ihn zu trösten versuchte, hörte, wie Lichtschalter angeknipst und wieder ausgeschaltet wurden und wie Bettzeug herumgetragen wurde. Ich lag im Dunkeln, betrachtete das Licht, das durch die Lamellen meiner Jalousien auf die frisch gestrichene Decke fiel, und wartete darauf, dass Thomas aufhörte zu weinen. Aber um zwei Uhr fing er wieder an. Dieses Mal hörte ich Mum über den Flur tappen und leise mit Treena sprechen. Dann war Thomas endlich wieder still.
Um vier wachte ich auf, weil meine Zimmertür geöffnet wurde.
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