Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom
wichtig; Gefühle und zwischenmenschliche Erfahrungen dagegen weniger. Das kann zu anerkannten Fertigkeiten führen, aber auch zu Verwundbarkeiten in der sozialen Welt und es hat Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl. Derjenige wird die Diagnose so wahrnehmen, wie die Fachkraft sie ihm erklärt. Ich nehme diese Erläuterungen meist auf ein Tonband auf, das sich die Familie dann bei Bedarf noch einmal anhören kann. Die Stärken und Schwächen lege ich auch schriftlich in einem Bericht für die Familie nieder oder schreibe eine Social Story für das Kind. Der Spezialist oder die Eltern können dem Kind auch einen Brief schreiben, in dem die Vor- und Nachteile des Syndroms kindgerecht geschildert werden. 18
Wenn ich die Diagnose erkläre, rede ich lieber vom Asperger-Syndrom als von einer Asperger-Störung, da der Begriff »Störung« das Kind verwirren könnte.
AUS DEM LEBEN
»Ich bin nicht gestört, ich funktioniere sehr gut«
Das wird etwa deutlich bei Thomas, den seine Mutter in ihrer Autobiografie beschreibt:
»Während mein elfjähriger Sohn Thomas auf dem Rücksitz unseres Autos saß, las er ein Buch über das Asperger-Syndrom und fragte: »Mutti, hier in dem Buch ist von einer Asperger-Störung die Rede. Warum nennen sie das eine Störung?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber das ist eine gute Frage«, antwortete ich.
Er fuhr fort: »Ich werde der Autorin schreiben und ihr sagen, dass sie einen falschen Begriff benutzt. Ich bin nicht gestört, ich funktioniere sehr gut.«
»Sehr gute Idee«, antwortete ich. 19
Outing – wem erzählt man von der Diagnose?
Nachdem man die Diagnose demjenigen mitgeteilt hat, muss man klären, wer sonst noch davon erfahren soll. Kinder werden sich Gedanken machen, ob die anderen Kinder vielleicht negativ auf eine solche Information reagieren könnten. Erwachsene werden sich überlegen, ob es klug ist, es Freunden, künftigen Arbeitgebern und Kollegen zu erzählen. Die Fachkraft wird die Frage des Outings mit demjenigen besprechen und dabei die persönlichen Lebensumstände und die jeweiligen Vor- und Nachteile berücksichtigen und klären, wie viel man von der Diagnose preisgeben sollte.
Man sollte die Ansicht des Kindes respektieren, wie viel es den anderen Kindern von der Diagnose mitteilen möchte. Ist das Kind damit einverstanden, dass die Information weitergegeben wird, so wird man entscheiden müssen, wer wem wie viel erzählt und inwieweit das Kind direkt daran beteiligt sein soll. Carol Gray hat das Programm The Sixth Sense (Der sechste Sinn) entwickelt, um die Diagnose Klassenkameraden an einer Grundschule zu vermitteln. 20
Auch ein frisch diagnostizierter Erwachsener wird wissen wollen, wem er davon erzählen und wie er das der Familie, den Bekannten und den Arbeitskollegen vermitteln kann. Einige sind sehr zurückhaltend und besonders vorsichtig, was das Outing angeht. Sie berichten davon nur einem sorgfältig ausgewählten Personenkreis. Andere sind da wesentlich offener und mutiger. So hat sich Liane Willey Holliday für eine »Outing-Party« entschieden. Andere tragen T-Shirts mit dem Aufdruck »Ich habe das Asperger-Syndrom und bin stolz darauf« oder »Asperger – eine andere Art des Denkens«. So wird die Diagnose besonders augenfällig.
Wie sieht die Zukunftsprognose aus?
Ich habe über mehrere Jahrzehnte die zunehmende Reife, Selbstakzeptanz und die zunehmenden Fähigkeiten von mehreren tausend Kindern mit dem Asperger-Syndrom verfolgen und meinen Teil dazu beitragen können. Die Vorschulkinder, die ich 1992 untersucht habe, als ich meine Klinik eingerichtet hatte, sind heute junge Erwachsene. Ich habe auch Erwachsene diagnostiziert und sie bei ihrer Suche nach einer eigenen Identität und in ihrer Beziehung zu ihrem Partner und ihren Kindern sowie bei ihrem beruflichen Erfolg unterstützt.
Welche Faktoren wirken sich positiv aus?
Dabei sind mir die folgenden Faktoren aufgefallen, die zum Erfolg dieser Menschen in ihrem Leben beigetragen haben:
Die Diagnose erfolgt in der frühen Kindheit, um sekundäre psychologische Prob leme wie Depressionen und Verleugnungsverhalten zu reduzieren.
Die Person und ihre Familie akzeptieren die Diagnose.
Die Person hat einen Mentor, das heißt einen Lehrer, Verwandten, eine Fachkraft oder eine andere Person mit Asperger-Syndrom, die das Syndrom versteht und Hilfestellungen und Anregungen bietet.
Die Person macht sich über das Asperger-Syndrom sachkundig, indem sie Autobiografien und Selbsthilfebücher für
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