Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom
sein!
Eine verzögerte Sprachentwicklung ist eines der Diagnosekriterien von Gillberg und Gillberg. 34 Junge Kinder mit typischem Autismus, die schließlich eine flüssige Sprache entwickeln, verfügen über ein Fähigkeitsprofil, das dem von Kindern mit Asperger-Syndrom ähnelt, die keine verzögerte Sprachentwicklung hatten. Daher ist es meine Ansicht und die einer Reihe anderer Spezialisten, dass eine frühe Sprachverzögerung kein Ausschlusskriterium für das Asperger-Syndrom sein kann, sondern im Gegenteil, wie bei den Gillberg-Kriterien, ein Einschlusskriterium darstellt.
Der Schwerpunkt bei der diagnostischen Beurteilung sollte auf die aktuelle Verwendung der Sprache (also auf deren pragmatische Aspekte) gelegt werden und nicht auf die Sprachentwicklung.
Kriterium E: Selbsthilfefähigkeiten und Anpassungsverhalten
Die DSM-IV-Kriterien erklären in Bezug auf Kinder mit Asperger-Syndrom: »Es existiert in der Kindheit keine klinisch bedeutsame Verzögerung in der kognitiven Entwicklung oder in der Entwicklung altersgemäßer Fähigkeiten zur Selbsthilfe, im anpassungsfähigen Verhalten (anders als in der sozialen Interaktion) und bei der Neugier in Bezug auf das Umfeld.« Die klinische Erfahrung und die Forschung zeigen, dass Eltern ihren Kindern mit Asperger-Syndrom oft verbal Hilfestellungen geben müssen. Das reicht von der Hilfe bei der richtigen Verwendung des Essbestecks bis zu Erinnerungen bei der persönlichen Hygiene, bei der Kleiderauswahl und bei Organisationsfragen.
Wenn Eltern einen standardisierten Beurteilungsbogen für Selbsthilfe- und Anpassungsfähigkeiten ausfüllen, zeigt sich, dass Kinder mit Asperger-Syndrom in diesen Bereichen unter dem Niveau liegen, das man für Kinder ihrer Altersklasse und ihres Intelligenzniveaus erwartet. 35 Spe zialistenstellen auch bedeutende Probleme beim Anpassungsverhalten, insbesondere bei der Steuerung eigener Wut-, Angst- und Depressionsgefühle, fest. 36
Wichtige Merkmale fehlen, seltene werden jedoch zu stark betont
Die Diagnosekriterien nach DSM-IV enthalten keine Beschreibung der ungewöhnlichen Merkmale des Sprachgebrauchs, wie sie ursprünglich von Asperger beschrieben wurden und wie sie sich auch in der Fachliteratur finden, insbesondere der pedantische Gebrauch der Sprache und eine ungewöhnliche Prosodie.
Die DSM-IV-Kriterien enthalten auch keine Hinweise auf die sensorische Wahrnehmung und Integration, besonders, was die akustische Empfindlichkeit und die Überempfindlichkeit auf Lichtreize, taktile Reize und Gerüche angeht. Diese Aspekte des Asperger-Syndroms können tief greifende Auswirkungen auf die Lebensqualität des Betroffenen haben.
Die Kriterien enthalten weiterhin keine Hinweise auf motorische Ungeschicklichkeit, die bereits Asperger beschrieben hat und die in der Fachliteratur näher beschrieben wurde. 37
Die Diagnosekriterien des DSM-IV können auch dahingehend kritisiert werden, dass sie Merkmale betonen, die eher selten oder nur zeitweilig auftreten. Die Kriterien weisen hin auf »Stereotype und repetitive motorische Manierismen (z. B. das Schnippen oder Drehen der Finger oder komplexe Bewegungen mit dem ganzen Körper)«. Die klinische Erfahrung zeigt jedoch, dass viele Kinder mit Asperger-Syndrom solche Merkmale niemals aufweisen oder, wenn sie es doch tun, dass diese Merkmale bereits im Alter von neun Jahren wieder verschwinden. 38
Kritik am hierarchischen Ansatz
Den DSM-IV-Richtlinien zufolge gilt, dass, wenn die Kriterien für Autismus in einer diagnostischen Beurteilung bestätigt werden, eine Autismusdiagnose Vorrang vor einer Diagnose Asperger-Syndrom haben soll. Und zwar ungeachtet der kognitiven, sozialen, sprachlichen, motorischen und sensorischen Fähigkeiten und Interessen des Kindes, die der Beschreibung des Asperger-Syndroms entsprechen. Dieses Thema des Vorrangs des Autismus vor dem Asperger-Syndrom wurde von mehreren Forschungsstudien untersucht. 39 In diesen Studien kam man zu dem Schluss, dass eine Diagnose Asperger-Syndrom nahezu unmöglich ist, wenn man die gegenwärtigen DSM-IV-Kriterien verwendet.
Viele Psychologen, ich eingeschlossen, weisen daher den hierarchischen Ansatz zurück. Gegenwärtig ist der Konsens unter Spezialisten, dass, wenn das aktuelle Fähigkeitsprofil des Kindes der Beschreibung des Asperger-Syndroms entspricht, diese Diagnose den Vorrang vor einer Autismusdiagnose haben soll. Wenn also ein Kind sowohl die DSM-IV-Kriterien für Autismus als auch für das Asperger-Syndrom erfüllt,
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