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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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ein bisschen Geduld, mein kleiner Löwe«, sagt Vera und tätschelt ihm die Schulter. Sie bemerkt, dass die Kinder im Zug aus ihrer Benommenheit aufwachen und unruhig werden. Ein paar wimmern. Eins fängt an zu weinen. Vera will schon nach einem kleinen Beutel Rosinen greifen, den sie mitgebracht hat, als wieder ein Pfiff ertönt. Dieses Mal hört er nicht kurz danach auf, als sei der Zug über eine Bahnüberführung gefahren, sondern er geht immer weiter und ist schrill wie der Schrei einer Frau. Dann greifen die Bremsen so abrupt, dass die Räder quietschen. Der Zug ruckelt und verliert an Tempo.
    Plötzlich fängt es um sie herum an zu donnern. Man hört das Heulen eines Flugzeugs und dann Explosionen.
    Vera blickt hinaus und sieht überall Feuer. Im Zug bricht Panik aus. Alle schreien und rennen zu den Fenstern.
    Eine Frau in zerknitterter blauer Hose bahnt sich ihren Weg durch den Waggon und ruft: »Alles raus aus dem Zug. Los, los, los! Zur Scheune hinter uns. Schnell!«
    Vera nimmt ihre Kinder und rennt. Später, als sie ganz an der Spitze der Menschenschlange ist, geht ihr durch den Sinn, dass sie als Erwachsene den Kindern ohne Begleitung hätte helfen müssen, aber jetzt kann sie nicht klar denken. Über ihrem Kopf heulen die Flugzeuge. Bomben fallen, Feuer bricht aus.
    Draußen empfängt sie Rauch und Geschrei. Um sie herum sieht sie nur Zerstörung: brennende Gebäude, schwarz glühende Löcher, zerbombte Häuser.
    Die Deutschen sind da und rücken mit Panzern, Geschützen und Bomben vor.
    Vera sieht einen Mann auf sie zukommen, er trägt Uniform. »Wo sind wir?«
    »Etwa vierzig Kilometer südlich von der Luga.«
    Sie zieht ihre Kinder enger an sich. Ihre Gesichter sind rußverschmiert. Jetzt weinen sie. Sie rennen mit der Menge zu einer riesigen Scheune und drängen sich hinein.
    Es ist heiß hier und es riecht nach Angst, Feuer und Schweiß. Sie hören über sich die Bomber und spüren die Erschütterung der Explosionen.
    »Man hat uns direkt zu den Deutschen gebracht«, sagt eine Frau verbittert.
    »Schsch«, ertönt es sofort von einem Dutzend anderer Frauen, aber jetzt ist es heraus. Die Bemerkung setzt sich wie ein Bombensplitter, der nicht entfernt werden kann, in Veras Kopf fest.
    All diese Menschen – in der Mehrzahl Kinder – warten auf die Nacht, die nicht kommen will, auf Schutz, der ihnen nicht gewährt werden kann. Wie soll man einem Staatsoberhaupt trauen, der die Kinder des Landes direkt in die Arme des Feindes treibt?
    Gott sei Dank ist Vera bei ihren Kindern. Was, wenn sie allein gewesen wären?
    Sie weiß, darüber wird sie später nachdenken, und zwar lange. Wahrscheinlich wird sie vor Erleichterung weinen. Aber nicht jetzt. Jetzt muss sie handeln.
    »Wir müssen raus aus der Scheune«, sagt sie, leise zuerst, aber als eine Bombe so nahe bei ihnen einschlägt, dass die Dachbalken erzittern und Staub auf sie herunterrieselt, wiederholt sie es lauter: »Wir müssen diese Scheune verlassen. Wenn eine Bombe sie trifft –«
    »Bürgerin«, sagt jemand, »die Partei will, dass wir hierbleiben.«
    »Ja, aber … unsere Kinder.« Sie spricht nicht aus, was sie denkt, sie kann es nicht. Doch viele wissen es ohnehin, das sieht sie an ihren Blicken. »Ich gehe mit meinen Kindern aus dieser Scheune und nehme jeden mit, der auch gehen will.«
    Sie hört Raunen um sich herum. Das überrascht sie kaum. In ihrem Land herrscht große Angst, und niemand weiß, wer einen eher umbringen wird: die Deutschen oder die Geheimpolizei.
    Sie nimmt ihre Kinder fester bei der Hand und setzt sich langsam in Bewegung. Selbst die Kinder weichen beiseite, um sie durchzulassen. Die Augen, die sie anblicken, sind voller Misstrauen und Angst.
    »Ich komme mit«, erklärt eine Frau. Sie ist alt, ihr Gesicht faltig und ihr graues Haar unter einem schmutzigen Kopftuch verborgen. Vier Kinder mit Winterkleidern und ascheverschmierten Gesichtern drängen sich um sie.
    Sie sind die Einzigen.
    Vera, die Frau und die sechs Kinder bahnen sich durch die Menge der schweigenden Kinder ihren Weg aus der Scheune. Draußen ist alles mit Rauch überzogen.
    »Wir können auch einfach weitergehen«, sagt die Frau.
    »Wie weit sind wir von Leningrad entfernt?«, erwidert Vera und fragt sich, ob sie das Richtige getan hat. Jetzt fühlt sie sich nackt und schutzlos den Bombern ausgesetzt, die über ihnen fliegen. Links von ihr fällt eine Bombe und ein Gebäude explodiert.
    »Etwa neunzig Kilometer«, antwortet die Frau. »Es ist

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