Ein Garten im Winter
tiefsten Inneren ihrer Seele. Wimmernd drängt sie sich durch die Menge, stößt sich an Frauen vorbei, die sie mit vor Verzweiflung leeren Blicken anschauen. Sie kämpft sich zum Zug vor.
»Ich bin eine entbehrliche Arbeiterin«, sagt sie zur Frau am Kopf der Schlange, die so erschöpft wirkt, dass ihr alles egal zu sein scheint.
»Papiere?«
»Hab ich in dem Chaos fallen lassen«, erklärt sie und zeigt in die Menge. Die Lüge brennt ihr im Mund und verursacht ein flaues Gefühl im Magen. Genau so zieht man Aufmerksamkeit auf sich, und nichts – nicht mal der Krieg – ist so furchterregend wie die Aufmerksamkeit der Geheimpolizei. Sie richtet sich mühsam auf. »Die Arbeiter kontrollieren die Evakuierung nicht. Es ist nicht effizient. Vielleicht sollte ich das melden.«
Die Kritik wirkt. Die müde Frau strafft die Schultern und nickt forsch. »Ja, Genossin. Sie haben recht. Ich werde besser aufpassen.«
»Gut.« Vera hämmert das Herz, als sie an ihr vorbei in den Zug geht. Bei jedem Schritt ist sie sicher, dass jemand ihr nachkommt, Betrügerin! schreit und sie mitnimmt.
Aber niemand kommt, und schließlich hält sie inne und betrachtet die unzähligen Kinder um sich herum. Wie die Ölsardinen sitzen sie dicht an dicht auf den grauen Sitzen, warm verpackt in Mänteln und Mützen, trotz des strahlenden Sommertags – der Beweis, dass niemand an ihre baldige Rückkehr glaubt, obwohl keiner dies offen aussprechen würde. Die runden Gesichter der Kinder glänzen von Schweiß oder Tränen. Sie sind still, ganz still. Keines plappert, lacht oder spielt. Alle sitzen nur da, benommen und niedergedrückt. Ein paar Frauen sind auch da. Evakuierungsbeauftragte, Kindergärtnerinnen und wahrscheinlich auch Frauen wie Vera, die weder ihre Kinder im Stich lassen noch einer staatlichen Anordnung zuwiderhandeln wollten.
Sie will gar nicht daran denken, was sie getan hat und was das für ihre Familie bedeutet. Auf das Geld, das sie in der Bibliothek verdient, können sie nicht verzichten …
Der Zug scheint unter ihr zu erwachen. Ein Pfiff ertönt, dann spürt sie, wie er sich in Bewegung setzt. Sie geht von einem Waggon in den nächsten und berührt dabei kaum die Sitze oder sieht die Kinder um sich herum an.
»Mama!« Anjas Stimme schrillt über das Rattern und Zischen des Zuges hinweg. Vera arbeitet sich bis zu dem schmalen Sitz vor, auf dem ihre Kinder sich aneinanderschmiegen. Sie sind zu klein, um aus dem Fenster schauen zu können.
Sie gleitet auf den Sitz, nimmt beide auf ihren Schoß und bedeckt sie mit Küssen.
Leos rundes, vor Tränen und Schweiß feuchtes Gesicht ist schon schmutzig, obwohl sie nicht weiß, wie er das schon wieder geschafft hat. Tränen schimmern in seinen Augen, aber dieses Mal weint er nicht, und Vera fragt sich, ob ihr Abschied ihm etwas von seiner Unschuld und Kindlichkeit geraubt hat. »Du hast doch gesagt, wir müssten wegfahren.«
Vera hat einen solchen Kloß im Hals, dass sie nur nicken kann.
»Ich habe seine Hand gehalten«, erklärt Anja feierlich. »Die ganze Zeit.«
Wie alle guten Sowjetbürger gestattet Vera sich nicht, die Regierung infrage zu stellen. Wenn Genosse Stalin die Kinder durch Evakuierung in den Süden schützen will, bringt sie sie zum Zug. Dass sie mitfährt, ist ein Akt der Rebellion, doch der wird mit jedem Kilometer, den sie zurücklegen, bedeutungsloser. Vera muss sehen, dass die Kinder an ihrem Ziel sicher sind, und wenn sie das weiß, wird sie zu ihrer Arbeit in der Bibliothek zurückkehren. Mit etwas Glück wird das nicht länger als ein, zwei Tage in Anspruch nehmen. Sie wird ihrer Vorgesetzten, Genossin Plotkina, erzählen, dass es ein patriotischer Akt von ihr war, die Kinder auf der staatlich verordneten Evakuierung zu begleiten.
In der Sowjetunion ist es wichtig, wie man etwas bezeichnet. Wörter wie patriotisch, effizient, essentiell zählen hier viel. Niemand will das Falsche infrage stellen. Wenn Vera nur furchtlos und selbstsicher genug auftritt, wird ihr vielleicht nichts geschehen.
Hauptsache, Mama und Olga machen sich nicht allzu große Sorgen.
»Ich hab Hunger, Mama«, quengelt Leo. Er hat sich auf ihrem Schoß zusammengerollt. Sein graues Stoffkaninchen hält er im Arm. Er lutscht am Daumen und streichelt über den weichen rosafarbenen Satin im Schlappohr des Stofftiers.
Sie sind erst ein paar Stunden unterwegs, und bislang hat noch niemand etwas über Mahlzeiten, Pausen oder das Ziel ihrer Reise verlautbaren lassen.
»Hab noch
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