Ein Garten im Winter
wieder nach Hause und dann warte ich auf euch. Wenn ihr zurückkommt –«
»Nein«, erwidert Anja entschieden. »Ohne dich will ich nicht weg.«
»Ich auch nicht«, jammert Leo.
»Es geht nicht anders. Versteht ihr das? Der Krieg kommt, und unser großer Genosse Stalin möchte, dass ihr Kinder in Sicherheit seid. Ihr werdet eine kurze Zugreise nach Süden unternehmen, bis unsere Rote Armee gesiegt hat. Dann kommt ihr nach Hause zu Papa und mir.«
Leo weint jetzt.
»Willst du, dass wir fahren?«, fragt Anja, und ihre blauen Augen füllen sich mit Tränen.
Nein , denkt Vera, während sie nickt. »Du musst auf deinen Bruder aufpassen. Du bist stark und klug. Du wirst immer bei ihm bleiben und ihn nie allein lassen, ja? Kannst du das? Für mich stark sein?«
»Ja, Mama«, antwortet Anja.
In den nächsten fünf Stunden stehen sie Schlange. Die Kinder werden geprüft, eingeteilt und in neue Schlangen geschickt. Am Ende des Nachmittags ist das Evakuierungszentrum überfüllt von Kindern und ihren Müttern. Dennoch ist es seltsam still. Die Kinder bleiben brav sitzen, warten mit erhitzten Gesichtern, weil sie in den überflüssigen Mänteln schwitzen, und schwingen müßig die Beine. Die Mütter wagen nicht, einander anzublicken, zu sehr fürchten sie, den eigenen Schmerz im Gesicht der anderen zu sehen.
Schließlich kommt der Zug. Metallräder kreischen, Rauch steigt zischend in die Luft. Zuerst sitzen alle nur da – niemand will sich rühren –, doch als ein Pfiff die Stille durchschneidet, stürmen die Mütter alle zusammen los, drängen und schieben vorwärts, stoßen sich beiseite, nur um ihre Kinder in den Zug zu setzen, der sie in Sicherheit bringt.
Vera schiebt sich zum Anfang der Schlange. Der Zug neben ihr zischt und dröhnt wie ein lebendiges Wesen. Parteimitglieder teilen die Menge wie Haie einen Fischschwarm und kontrollieren, ob die Mütter auch wirklich ihre Kinder abgeben. Leo schluchzt und klammert sich an Vera. Anja weint, ohne einen Laut von sich zu geben, was seltsamerweise noch schlimmer ist.
»Passt aufeinander auf und bleibt beisammen. Gebt niemandem euer Essen. Für Notfälle ist Geld in eure Manteltaschen eingenäht, außerdem mein Name und meine Adresse.« Vera heftet kleine Namensschilder an ihre Mantelaufschläge.
»Wohin fahren wir denn?«, will Anja wissen. Sie versucht so angestrengt, erwachsen zu wirken, dass es Vera fast das Herz bricht. Ein fünfjähriges Mädchen sollte mit Puppen spielen und nicht am Zug anstehen, um sein Zuhause zu verlassen.
»Aufs Land, in ein Zeltlager am Fluss Luga. Dort seid ihr in Sicherheit, Anja. Und schon bald komme ich und hole euch.« Wie zum Trost spielt Vera mit dem Namensschild am Revers ihrer Tochter.
»Alles einsteigen«, ruft ein Genosse laut. »Auf der Stelle. Der Zug fährt ab.«
Vera umarmt erst ihre Tochter und dann ihren Sohn. Ganz langsam richtet sie sich auf, weil sie das Gefühl hat, ihre Knochen würden brechen.
Jetzt übernehmen andere ihre Kinder, greifen sie und geben sie weiter.
Sie weinen und winken. Anja hält Leos Hand. Sie zeigt ihrer Mama, wie fest sie sie hält, wie stark sie ist.
Und dann sind sie weg.
Zuerst kann Vera sich nicht von der Stelle rühren. Andere stoßen sie beiseite und murmeln aus lauter Verzweiflung wilde Flüche. Sehen sie denn nicht, dass sie wie gelähmt ist, dass sie sich einfach nicht bewegen kann? Schließlich stößt sie jemand so heftig, dass sie auf die Knie fällt. Sie spürt, wie über ihren Kopf hinweg Kinder von einem Erwachsenen zum nächsten gereicht werden.
Vera steht langsam auf und bemerkt vage, dass ihre Strümpfe an den Knien aufgerissen sind. Sie geht am Zug entlang und blickt suchend über die Fenster, rennt schließlich von Waggon zu Waggon, bis ihr klarwird, dass ihre Kinder zu klein sind, um durchs Fenster gesehen werden zu können.
So klein.
Hat sie ihnen alles Notwendige gesagt?
Behaltet eure Mäntel. Der Winter kommt bald, obwohl es heißt, ihr wäret in einer Woche zurück.
Bleibt immer zusammen.
Putzt euch die Zähne.
Esst immer alles auf. Und stellt euch bei jeder Mahlzeit ganz vorne an.
Passt aufeinander auf.
Ich habe euch lieb.
Als sie das denkt, taumelt sie und fällt fast wieder hin. Sie hat ihnen nicht gesagt, dass sie sie liebhat. Sie hatte Angst, dann würden sie nur noch heftiger weinen, daher hat sie die kostbaren Worte zurückgehalten, das Einzige, was wirklich zählt.
Vor lauter Schmerz entfährt ihr ein Laut. Er dringt einfach aus dem
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