Ein Garten im Winter
besser, nicht zu reden.«
Vera nimmt Leo auf den Arm und umklammert Anjas Hand. Sie weiß, dass sie ihren Sohn nicht lange tragen kann, aber zumindest jetzt will sie es tun. Nur für alle Fälle. Sie spürt, wie sein Herz stark und regelmäßig gegen ihres pocht.
In den folgenden Jahren wird sie die Mühen ihrer Wanderung vergessen. Sie wird vergessen, dass die Füße ihrer Kinder Blasen bekamen und bluteten, dass ihnen das Essen ausging, dass sie wie Landstreicher in Scheunen übernachteten und die ganze Zeit auf Luftangriffe und Bomben lauschten, dass sie in Panik aufwachten, weil sie meinten, unter Bombenbeschuss zu stehen, und blind nach Verletzungen tasteten, die es nicht gab. Stattdessen wird sie sich nur daran erinnern, dass Lkw-Fahrer sie mitnahmen und Fremde ihnen Brot zusteckten und fragten, was sie im Süden gesehen hatten. Sie wird sich erinnern, dass sie erzählte, was sie sich nie hätte vorstellen können: dass Krieg Feuer und Panik bedeutet – und Leichen in Straßengräben.
Als sie endlich heimkommt und in die tröstenden Arme ihrer Mutter sinken kann, ist sie abgekämpft, erschöpft und blutverschmiert. Ihre Schuhe sind stellenweise durchgelaufen, und der Schmerz in ihren Füßen will nicht mal in warmem Wasser nachlassen. Aber all das ist nicht wichtig. Nicht jetzt.
Wichtig ist nur Leningrad, ihre schöne weiße Stadt. Die Deutschen rücken auf ihre Heimatstadt vor. Hitler hat geschworen, sie dem Erdboden gleichzumachen.
Vera weiß, was sie zu tun hat.
Morgen wird sie in aller Herrgottsfrühe aufstehen und sich alle Kleider anziehen, die sie hat. Sie wird so viel Wurst und Trockenfrüchte einpacken, wie sie tragen kann, und wie Tausende anderer Frauen in ihrem Alter in den Süden zurückgehen, um das zu schützen, was sie liebt. Dies ist die erste Bürgerpflicht.
»Wir müssen sie an der Luga aufhalten«, sagt sie zu ihrer Mutter, die verständnisvoll das Gesicht verzieht. »Sie brauchen dort Arbeiter.«
Die Mutter stellt keine Fragen. Es ist offensichtlich: Leningrad ist eine Stadt der Frauen geworden, obwohl gerade mal die erste Kriegswoche vergangen ist. Jeder Mann zwischen vierzehn und sechzig muss kämpfen. Und jetzt ziehen auch die Frauen in den Krieg. »Ich kümmere mich um die Kinder«, sagt ihre Mutter nur, doch Vera hört ihr Du kommst zu uns zurück so deutlich, als hätte sie es laut ausgesprochen.
»Ich bin bald zurück«, verspricht Vera. »Die Bibliothek wird mein Verhalten als patriotisch bezeichnen. Es wird alles gut gehen.«
Die Mutter nickt nur. Sie beide wissen, dass Veras Versprechen aus der Luft gegriffen ist, aber sie sagen nichts dazu. Beide wollen daran glauben.
Zwanzig
»Ich denke, das ist genug für heute Abend«, sagte ihre Mom.
Meredith stand als Erste auf. Fast vorsichtig ging sie über den Teppich und trat zu ihrer Mutter. »Du siehst heute Abend gar nicht müde aus.«
»Akzeptanz«, erwiderte sie und starrte auf ihre Hände.
Diese überraschende Antwort veranlasste Nina aufzustehen. Sie stellte sich neben ihre Schwester. »Was meinst du damit?«
»Du hattest recht, Nina. Dein Vater hat mir das Versprechen abgenommen, euch diese Geschichte zu erzählen. Das wollte ich nicht. Aber es ist ermüdend, gegen etwas zu kämpfen.«
»Bist du deshalb nach Vaters Tod so … verrückt geworden?«, fragte Meredith. »Weil du seinen Wunsch missachtet hast?«
»Das ist vielleicht einer der Gründe«, erwiderte ihre Mutter achselzuckend, als wollte sie sagen, dass Gründe nicht mehr wichtig seien.
Nina und Meredith standen noch einen Moment da, doch ihre kurzzeitige Vertrautheit war schon wieder verflogen. Erneut wich die Mutter ihren Blicken aus.
»Also gut«, sagte Meredith schließlich. »Morgen früh holen wir dich zum Frühstück ab.«
»Ich möchte nicht –«
»Wir kommen«, sagte Nina so entschieden, dass der Protest ihrer Mutter erstarb. »Morgen werden wir drei zusammen sein. Du kannst protestieren, mit mir streiten oder mich auch anschreien, aber du weißt, dass ich meine Meinung nicht ändern und mich am Ende durchsetzen werde.«
»Da hat sie recht«, bestätigte Meredith lächelnd. »Wenn sie nicht ihren Willen kriegt, ist die Hölle los.«
»Ach, ist mir ja ganz neu«, bemerkte die Mutter.
»War das ein Scherz?«, fragte Nina grinsend.
Es war, als sähe man zum ersten Mal die Sonne oder könnte plötzlich ohne Stützräder fahren. Auf einmal war alles leicht und strahlend.
»Verschwindet«, sagte die Mutter, aber Nina merkte, dass sie
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