Ein Garten im Winter
sich ein Lächeln verbeißen musste, und diese kleine Veränderung gab ihr Auftrieb.
»Komm, große Schwester.« Sie schlang einen Arm um Meredith.
Sie verließen die Kabine der Mutter und gingen in ihre eigene.
Ihr langgezogenes, schmales Zimmer war überraschend geräumig. Es gab eine kleine Sitzecke – mit einem Sofa, das zu einem Bett ausgezogen werden konnte –, einen Beistelltisch, einen Fernseher und zwei Betten. Eine Schiebetür führte auf ihren Balkon. Nina schaltete den Fernseher ein, wo ihnen auf einer Karte die Route des Schiffes gezeigt wurde. Es gab weder ein Handynetz noch Internetzugang hier draußen in den Gewässern vor British Columbia, und auch kein Fernsehen. Wenn sie einen Film sehen wollten, mussten sie sich einen aus der Schiffsbücherei ausleihen.
»Ich darf als Erste ins Bad«, bemerkte Meredith, kaum, dass die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, worauf Nina lachen musste. Es war ein Satz aus ihrer Kindheit.
Meredith ist auf meiner Seite, Dad, sag ihr, sie soll rüberrutschen.
Nina hat meine Barbie extra kaputtgemacht.
Ihr wollt doch wohl nicht, dass ich rechts ranfahre!
Wieder musste Nina lächeln. Als Meredith in ihrem rosafarbenen Flanellpyjama aus dem Bad kam, machte sich Nina ebenfalls bettfertig. Zum ersten Mal seit Jahren schliefen sie wieder in einem Zimmer.
»Du lächelst«, meinte Meredith.
»Ich musste nur an unsere Campingausflüge denken.«
»Ihr wollt doch nicht, dass ich rechts ranfahre!«, sagte Meredith, und beide brachen in Gelächter aus. Einen magischen Augenblick lang verschwanden die Jahre, und sie waren wieder Kinder, die um jeden Zentimeter auf dem Rücksitz eines leuchtend roten Cadillac-Cabrios kämpften, während John Denver seinen Song über die Berge sang.
»Mama hat sich immer rausgehalten«, sagte Meredith, und ihr Lächeln schwand.
»Wie konnte sie nur so ruhig bleiben?«
»Ich dachte immer, ihr wäre das alles egal, aber jetzt bezweifle ich das. Dad hatte recht. Das Märchen verändert alles.«
Nina nickte und lehnte sich zurück. »Auf dem Foto, das sind Anja und Leo, nicht?«
»Wahrscheinlich.«
Nina blickte zu ihrer Schwester. Die Frage, die den ganzen Abend im Raum gestanden und an Gewicht und Substanz gewonnen hatte, ließ sich nun nicht mehr ignorieren. »Wenn Mom wirklich Vera ist, was ist dann mit ihren Kindern geschehen?«
Nina hatte schon die ganze Welt gesehen, aber nur selten etwas so Großartiges wie das Panorama der Inside Passage. Das Wasser leuchtete in einem geheimnisvollen Dunkelblau, und überall waren Inseln: raue, bewachsene Landerhebungen, die noch genauso aussahen wie zweihundert Jahre zuvor. Und dahinter sah man nur schroffe, schneebedeckte Berge.
Sie war an diesem Morgen früh aufgestanden und wurde nun mit atemberaubenden Bildern eines Sonnenaufgangs über dem Meer belohnt. Sie erwischte einen Orca, der vor dem Bug des Schiffs aus dem Wasser brach. Sein riesiger schwarzweißer Körper bot einen verblüffenden Kontrast zu dem bronzefarbenen Horizont.
Gegen halb acht hörte sie schließlich auf zu fotografieren. Mittlerweile waren ihre Hände starr vor Kälte, und sie zitterte so heftig, dass sie kaum noch den Fotoapparat ruhig halten konnte.
»Hätten Sie gerne eine heiße Schokolade, Ma’am?«
Nina wandte sich von der Reling und dem herrlichen Panorama ab und sah eine junge Deckstewardess, die ein Tablett mit Tassen und einer Thermoskanne Kakao trug. Weil das Angebot so verlockend war, überging sie, dass die junge Frau sie Ma’am genannt hatte. »Das wäre großartig. Vielen Dank.«
Das Mädchen lächelte. »Auf den Liegestühlen sind auch Decken.«
»Wird es hier jemals warm?«, fragte Nina und umfasste mit ihren kalten Fingern die heiße Tasse.
»Höchstens im August.« Das Mädchen lächelte. »Alaska ist zwar wunderschön, aber das Klima ist nicht besonders freundlich.«
Nina dankte ihr und ging hinüber zu einem der Holzliegestühle. Sie nahm eine schwere, karierte Wolldecke, legte sie sich um die Schultern und ging zur Reling zurück. Dort starrte sie hinaus auf das glitzernde blaue Meer. Ein Delphintrio hüpfte und tauchte vollkommen synchron neben dem Schiff her.
»Das bringt Glück«, bemerkte Meredith, die zu ihr trat.
Nina streckte einen Arm aus und lud Meredith ein, sich neben ihr unter die Decke zu kuscheln. »Es ist teuflisch kalt hier draußen.«
»Aber schön.«
Vor sich sahen sie am zerklüfteten Rand einer Insel einen Leuchtturm.
»Du warst ziemlich unruhig letzte
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