Ein Garten im Winter
doch Krieg«, wendet Anja ein und wirkt für eine Fünfjährige unglaublich überlegen. Ihr Lispeln mildert die Schärfe ihrer Bemerkung, aber in ihren Augen lodert es. Dieses Mädchen ist wie aus Stahl, genau so, wie Vera sich früher selbst gesehen hat.
»Trotzdem«, sagt Vera, »machen wir heute einen Ausflug.« Ihr wird wirklich übel, als sie das sagt, aber ihre Mutter tritt zu ihr und berührt sie kurz, damit sie weitermachen kann.
Sie durchquert das Zimmer und nimmt die Mäntel der Kinder. In der Nacht zuvor ist sie noch lange aufgeblieben, um Geld und Papiere ins Futter zu nähen.
Sofort springt Leo auf, klatscht fröhlich in die Hände und sagt immer wieder: »Flug!« Selbst Anja lächelt. Der Krieg ist erst vor fünf Tagen erklärt worden, doch in diesen Tagen hat sich ihr Leben vollkommen verändert.
Das Frühstück vergeht wie eine Trauerfeier, mit gesenkten Augen und verstohlenen Blicken. Nur Mama kann Vera ansehen. Am Ende der Mahlzeit steht ihre Großmutter auf. Als sie Vera anschaut, füllen sich ihre Augen mit Tränen, so dass sie sich abwenden muss.
»Komm, Soja«, sagt sie barsch. »Wir wollen doch nicht zu spät kommen. Wie sähe das denn aus.«
Vera sieht, dass die Unterlippe ihrer Mutter blutet, so heftig hat sie sich daraufgebissen. Sie geht zu ihren Enkeln, kniet sich vor sie und nimmt sie beide in die Arme.
»Nicht weinen, Baba«, meint Leo. »Du kannst doch morgen einen Ausflug mit uns machen.«
Im hinteren Teil des Raums bricht Olga in Tränen aus, versucht sich aber sofort zu beherrschen. »Ich gehe jetzt, Mama.«
Die Mutter lässt die Kinder langsam los und steht auf. »Seid brav«, sagt sie noch zu ihnen. Sie gibt Vera hundert Rubel. »Mehr haben wir nicht mehr. Tut mir leid …«
Vera nickt und umarmt ihre Mutter ein letztes Mal. Dann richtet sie sich auf. »Gehen wir, Kinder.«
Es ist ein schöner, sonniger Tag. Alle sechs brechen auf und bleiben so lange wie möglich zusammen. Als Erste verabschieden sich Mutter und Großmutter, um zum Badajew-Lebensmittellager zu gehen, wo beide arbeiten. Olga geht als Nächste. Sie umarmt ihre Nichte und ihren Neffen heftig, versucht, ihre Tränen zu verbergen, und rennt zu ihrer Haltestelle.
Jetzt gehen nur noch Vera und ihre Kinder die betriebsame Straße entlang. Um sie herum werden Gräben ausgehoben und Luftschutzbunker eingerichtet. Im Sommergarten machen sie halt, aber die Schwäne sind aus dem Teich verschwunden und die Statuen unter Sandsäcken verborgen. Heute spielen keine Kinder hier und nirgendwo schrillt eine Fahrradklingel.
Mit übertriebenem Lächeln nimmt Vera ihre Kinder bei der Hand und geht mit ihnen in einen Teil der Stadt, den sie noch nie gesehen haben.
In dem Gebäude, das sie betreten, herrscht Chaos. Menschenschlangen winden sich kreuz und quer durch die Halle und enden vor papierübersäten Schreibtischen, hinter denen Parteimitglieder mit tristen Kleidern und säuerlichen, verbitterten Mienen sitzen.
Vera weiß, sie sollte sich direkt in der ersten Schlange anstellen und warten, bis sie an der Reihe ist, aber plötzlich ist sie nicht mehr so stark, wie sie sollte. Sie holt tief Luft und geht mit ihren Kindern in eine Ecke. Auch dort ist es nicht ruhig – die Geräusche der Wartenden sind allgegenwärtig: Schritte, Weinen, Schniefen und Betteln. Die ganze Halle riecht nach Körperausdünstungen, Zwiebeln und Pökelfleisch.
Vera kniet sich vor ihre Kinder.
Anja blickt finster drein. »Hier stinkt’s, Mama.«
»Genosse Floppy gefällt es hier nicht«, sagt Leo und drückt sein Kaninchen fest an sich.
»Wisst ihr noch, dass Papa gesagt hat, wir müssten alle stark sein, als er sich der Armee angeschlossen hat?«
»Ich bin stark«, verkündet Leo und zeigt sein pummliges Fäustchen.
»Ja«, antwortet Anja. Jetzt ist sie misstrauisch geworden. Vera sieht, dass ihre Tochter auf die Mäntel auf Veras Arm und den Koffer blickt, den sie mitgenommen hat.
Vera nimmt den schweren roten Wollmantel, zieht ihn Anja an und knöpft ihn bis zum Kragen zu. »Das ist zu heiß, Mama«, quengelt Anja und windet sich.
»Du gehst jetzt auf eine Reise«, sagt Vera ruhig. »Nicht für lange. Nur ein, zwei Wochen. Vielleicht brauchst du deinen Mantel da. Und hier … hier in diesen Koffer habe ich noch mehr Kleider und etwas zu essen gepackt. Nur für alle Fälle.«
»Du hast aber keinen Mantel an«, bemerkt Anja und runzelt die Stirn.
»Ich … äh … muss arbeiten und kann nicht mit, aber ihr kommt schon bald
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