Ein Garten im Winter
zu sein –, kam ihr das plötzlich einsam vor. »Meredith wäre eine Löwin, die für alle kämpft und der Inbegriff des Stolzes ist.«
»Und was wärest du, Mom?«, wollte Meredith wissen.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, ich wäre gar nicht da.«
»Du meinst also, du hättest keine Spuren bei uns hinterlassen?«
»Jedenfalls keine, an die man sich erinnern sollte.«
»Dad hat dich über fünfzig Jahre lang geliebt«, widersprach Meredith. »Das ist doch schon etwas.«
Die Mutter trank einen Schluck von ihrem Eistee und starrte hinaus in den Regen.
Die Kellnerin kam mit dem Essen. Nina stand rasch auf, flüsterte ihr etwas zu und setzte sich wieder. Während sie sich ihrem Essen widmeten, sprachen sie über ihren Tag in Ketchikan: den Goldnuggetschmuck in den Auslagen, die verschlungenen Tribals der Indianer, die Cowichan-Pullover der Einheimischen und den kahlköpfigen Adler, den sie auf einem Totempfahl in der Stadt gesehen hatten. Es war ein ganz normales Gespräch bei einer Familienmahlzeit, aber für Nina fühlte es sich fast magisch an. Während ihre Mutter erzählte, was ihr aufgefallen war, schien sie sich immer mehr zu entspannen. Es war, als löste sich mit jedem ganz banalen Wort etwas in ihr, bis sie am Ende der Mahlzeit geradezu strahlte.
Die Kellnerin kam und räumte den Tisch ab. Doch dann präsentierte sie nicht die Rechnung, sondern stellte ein Stück Geburtstagstorte vor die Mutter auf den Tisch. Das Licht der Kerze tanzte über die Buttercreme-Glasur.
»Alles Gute zum Geburtstag, Mom«, sagten Meredith und Nina gleichzeitig.
Sie starrte auf die Kerze.
»Wir wollten schon immer mal richtig mit dir Geburtstag feiern«, erklärte Meredith, streckte die Hand aus und legte sie auf die der Mutter.
»Ich habe so viele Fehler gemacht«, sagte die Mutter leise.
»Jeder macht Fehler«, erwiderte Meredith.
»Nein. Ich … ich wollte nicht so sein … ich wollte es euch erzählen … aber ich hab mich so geschämt, dass ich euch nicht mal ansehen konnte.«
»Jetzt siehst du uns an«, sagte Nina, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Denn in diesem Augenblick starrte sie auf die Kerze. »Du möchtest uns deine Geschichte erzählen. Das hast du immer gewollt. Deshalb hast du mit dem Märchen angefangen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du bist Vera«, sagte Nina leise.
»Nein«, widersprach die Mutter, »dieses Mädchen bin nicht ich.«
»Aber du warst es«, beharrte Nina und bereute es sofort. Doch sie konnte nicht anders.
»Du bist wie ein Hund, der seinen Knochen nicht hergeben will, Nina«, seufzte die Mutter. »Aber, ja. Vor langer Zeit war ich Veronika Petrowna Marschenko.«
»Warum –«
»Nicht jetzt«, sagte die Mutter scharf. »Dies ist meine erste Geburtstagsfeier mit meinen Töchtern. Für alles andere ist später noch Zeit.«
Einundzwanzig
Beim Essen unterhielten sie sich über Belanglosigkeiten. Sie tranken Wein und stießen noch einmal auf den einundachtzigsten Geburtstag ihrer Mutter an. Danach schlenderten sie durch das riesige Schiff, das glitzerte und funkelte wie die nächtliche Skyline von Las Vegas, bis sie schließlich in einem kleinen Theater landeten, wo ein Mann in einem Anzug mit orangefarbenen Pailletten eine Zaubervorstellung gab. Er ließ seine spärlich bekleidete Assistentin verschwinden, schenkte ihr Papierrosen, die sich in weiße Tauben verwandelten und davonflogen, zersägte sie und zauberte sie wieder zusammen.
Bei jedem neuen Zaubertrick klatschte die Mutter begeistert und strahlte wie ein kleines Kind.
Meredith konnte kaum den Blick von ihr abwenden, so gelöst, ja, fast glücklich wirkte sie. Ihr wurde jetzt erst klar, wie kühl ihre Schönheit immer gewesen war. Nur heute war sie anders: wärmer und sanfter.
Nach der Vorstellung gingen sie zurück zu ihren Kabinen. Als sie sich durch die dichtbevölkerten Gänge schoben, blieben sie mitten im lebhaften Geplauder der Mitreisenden und dem Klingeln der Casino-Glocken seltsam still. Etwas hatte sich an diesem Tag verändert, mit einer kleinen brennenden Kerze auf einem Geburtstagskuchen, aber Meredith konnte nicht sagen, was genau und wie sich das auf sie auswirken würde. Sie wusste nur, dass sie sich nun nicht mehr distanzieren konnte. Über fünfundzwanzig Jahre hatte sie ebenfalls einen Schutzwall um sich herum aufrechterhalten. Sie hatte sich geweigert, ihre Mutter zu brauchen oder auch nur zu sehen, und aus ihrer Distanz Stärke gezogen. Zumindest etwas, was sie für
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