Ein Garten im Winter
vertuscht. Wir Sowjets sind gut im Vertuschen, und ich hatte Angst, darüber zu sprechen. Aber es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Morgen werde ich einundachtzig. Wovor sollte ich Angst haben?«
»Morgen ist dein Geburtstag?«, fragten ihre Töchter wie aus einem Mund.
Fast hätte sie gelächelt. »Es war einfacher, alles für mich zu behalten. Ja, morgen habe ich Geburtstag.« Sie nippte an ihrem Kakao. »Ich werde mit euch diesen Professor aufsuchen, aber über eins solltet ihr euch im Klaren sein: Euch wird es noch leidtun, das alles angezettelt zu haben.«
»Wieso?«, wollte Meredith wissen. »Wieso sollte es uns leidtun, mehr über dich zu erfahren?«
Eine ganze Weile lang antwortete ihre Mutter nicht. Dann drehte sie sich langsam zu Meredith und sagte: »Es wird euch leidtun.«
Ketchikan war eine Lachsstadt: Sie wurden gefangen, in Salz eingelegt und verarbeitet. Der Niederschlagsmesser – auch Flüssigsonnenmesser genannt – zeigte an, wie feucht das Klima war.
»Seht euch das an«, sagte Meredith und zeigte auf eine Rasenfläche auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo ein Mann mit langen schwarzen Haaren an einem Totempfahl schnitzte. Es hatten sich einige Leute um ihn versammelt und sahen zu.
Nina wagte es, ihre Mutter am Arm zu fassen. »Gucken wir uns das mal an.« Zu ihrer Überraschung nickte sie und ließ sich von Nina über die Straße und in den kleinen Park führen.
Es fing an zu regnen, als sie dort standen. Die meisten Zuschauer verschwanden, suchten eilends Schutz, aber ihre Mom blieb stehen und sah dem Mann bei der Arbeit zu. Geschickt schnitzte und schälte er mit einem Metallwerkzeug das Holz so, dass es ganz glatt wurde und seine Form veränderte. Langsam bildete sich eine Klaue heraus.
»Ein Bär«, sagte die Mutter, und der Mann blickte auf.
»Sie haben ein gutes Auge«, bemerkte er.
Jetzt erst sah Nina, wie alt er war. Seine dunkle Haut war ledrig und zerfurcht und das Haar an seinen Schläfen grau.
»Das ist für meinen Sohn«, erklärte der Mann und zeigte auf den Vogel an der Basis des Totempfahls. »Das ist unser Clan, der Raben-Clan. Und das hier ist der Sturmvogel, der das Unwetter brachte, das die Straße wegspülte. Und dieser Bär ist mein Sohn …«
»Das ist also eine Familiengeschichte«, meinte Meredith.
»Ein Bestattungs-Totem. Zur Erinnerung an ihn.«
»Wunderschön«, sagte die Mutter. Da, mitten im Regen, hörte Nina, dass sie mit ihrer Märchenstimme sprach, und begriff ihre Bedeutung. Sie verstand, warum ihre Mutter die Geschichte nur im Dunkeln erzählte und warum ihre Stimme dann ganz anders klang: Es ging um Verlust. So klang ihre Mutter, wenn sie ihre Schutzwälle fallen ließ.
Sie sahen noch so lange zu, bis die Bärenklaue deutlich hervortrat. Schließlich machten sie sich auf den Weg zur Creek Street. Der einstige Rotlichtbezirk war mittlerweile in eine Shoppingmeile mit vielen Läden und Restaurants am Fluss umgestaltet worden. Sie fanden ein kleines, gemütliches Diner mit einer schönen Aussicht und setzten sich an einen rustikalen Kieferntisch am Fenster.
Die Straße vor ihnen wimmelte von Touristen mit Tüten und Taschen, die wie Gnus zur Wanderungszeit von einem Geschäft zum nächsten zogen, trotz des Regens. Die Glöckchen über den Ladentüren bildeten eine ständige Geräuschkulisse.
»Willkommen im Captain Hook’s«, sagte eine hübsche junge Kellnerin in leuchtend gelbem Overall und rotkarierter Bluse. Ein gelber Fischerhut saß auf ihrem braunen Haarschopf. Auf einem Namensschild war zu lesen, dass sie Brandi hieß. Sie reichte jeder von ihnen eine große Speisekarte, die die Form eines Angelhakens hatte.
Kurz darauf kam sie zurück, um ihre Bestellung aufzunehmen. Sie alle drei wollten Fish and Chips und Eistee. Als sie ging, sagte Meredith: »Ich frage mich, wie unser Familien-Totem wohl aussehen würde.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Alle drei blickten von ihrem Eistee auf und sahen sich an.
»Dad wäre die Basis«, sagte Nina. »Er stand am Anfang von allem.«
»Ein Bär«, fügte Meredith hinzu. »Und Nina wäre ein Adler.«
Ein Adler. Ein Einzelgänger. Stets zum Abflug bereit. Nina runzelte leicht die Stirn, weil sie gern widersprochen hätte. Ihr Leben hatte überall auf der Welt Spuren hinterlassen, aber nur wenige zu Hause. Sie würde auf keinem anderen Totem abgebildet sein außer dem ihrer Ursprungsfamilie, und obwohl sie sich das immer gewünscht hatte – vollkommen frei und unabhängig
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