Ein Garten im Winter
wollte. Langsam holt sie ihn hervor. Auf ihrer Handfläche präsentiert sie den prächtigen Schmuckschmetterling. »Hier«, sagt sie zu Anja, »bewahr den bitte für mich auf. Das ist mein größter Schatz. Wenn du ihn ansiehst, wirst du an mich denken und wissen, dass ich zu euch zurückkomme und immer an euch denke, wo ich auch sein mag. Und dass ich euch beide liebe. Spiel nicht damit, zerbrich ihn nicht. Dieser Schmetterling steht für uns, Anja. Er beweist, dass ich zu euch zurückkomme. Verstanden?«
Langsam und feierlich nimmt Anja den Schmetterling und birgt ihn vorsichtig in ihrer Hand.
Vera küsst ihre Kinder ein letztes Mal, dann steht sie auf.
Quer durch den Raum blickt sie zu ihrer Mutter. In ihrem Blick ist alles zu lesen: ihr Abschiedsgruß, das Versprechen, sich um die Kinder zu kümmern, und das Versprechen, zurückzukommen. Und die Angst, dass dies ein endgültiger Abschied ist. Vera weiß, sie sollte ihre Mutter umarmen, aber dann wird sie weinen müssen, und das darf sie nicht vor den Kindern, daher nimmt sie nur einen schweren Wintermantel vom Haken neben der Tür und wirft ihn sich über die Schultern. Kurz darauf drängen sich Olga und sie schon mit vielen anderen jungen Frauen im Laderaum eines Lastwagens. Etliche haben nur Sommerkleidchen und Sandalen an. Zu anderen Zeiten könnte man meinen, sie führen in die Ferien, in den Ural etwa oder ans Schwarze Meer. Aber jetzt würde niemand auf diesen Gedanken kommen, denn nicht eine von ihnen lächelt.
Als sie die Luga-Front erreichen, wimmelt es von Menschen – meist Mädchen und Frauen –, so weit das Auge reicht. Sie bauen an den riesigen Gräben und Wällen, die verhindern sollen, dass der Feind bis nach Leningrad vordringt. Gebückt bearbeiten sie den Boden mit Spitzhacken und Schaufeln. Sie sind erschöpft, ihre Gesichter von Schweiß und Lehm verschmiert und ihre Kleider ruiniert. Aber sie sind Russen – Sowjetbürger –, daher wagen sie nicht, sich auszuruhen oder zu beklagen. Sie denken nicht mal daran. Vera steht in der Sonne, sieht den Wald in einiger Entfernung und lässt sich von einer Genossin erklären, was zu tun ist.
Olga schiebt sich näher an sie und nimmt ihre Hand. Sie hören zu wie Soldaten und sehen aus wie Kinder, obwohl ihnen das nicht bewusst ist. Dies ist ihr letzter friedlicher Augenblick für viele Nächte. Danach nehmen sie die Spitzhacken und gehen dorthin, wo die Erde bereits bearbeitet wurde. Sie springen in den Graben und fügen sich ein in die endlose Reihe von Mädchen, Frauen und alten Männern, die auf die Erde einhacken, bis ihre Hände Blasen bekommen und bluten, bis sie Blut spucken und schwarze Tränen vergießen. Tag für Tag graben sie.
Nachts drängen sie sich in einer Scheune mit anderen Mädchen zusammen, die genauso betäubt, erschöpft und schmutzig aussehen, wie Vera sich fühlt. Es stinkt nach Staub und Lehm, Schweiß und Rauch.
In der siebten Nacht entdeckt Vera eine ruhige Ecke in der Scheune, wo sie schlafen können, und macht mit ein paar Zweigen ein kleines Feuer. Da es schnell wieder verlischt, beeilt sie sich, eine Tasse Wasser für ihre Schwester zu erhitzen, und gibt sie ihr dann. Die dünne Kohlsuppe, die sie zum Abendessen bekamen, ist schon längst wieder dem Hunger gewichen, aber daran ist nichts zu ändern.
Neben ihnen sitzt eine dickliche alte Frau an einen Heuballen gelehnt und betrachtet ihre schmutzigen Fingernägel, als hätte sie so etwas noch nie gesehen. Ihr rundes, schmutziges Gesicht ist ihnen fremd, doch in ihren Augen liegt etwas tröstlich Vertrautes.
»Sieh dir meine Hände an«, sagt Olga und stellt die Tasse Wasser ab. »Sie bluten.«
Das sagt sie mit leichtem Staunen, so als seien der Schmerz und sogar das Blut losgelöst von ihr.
Vera nimmt die Hand ihrer Schwester und sieht die geplatzten Blasen und das verkrustete Blut auf ihrer Handfläche. »Ich hab dir doch gesagt, dass du deine Hände mit Lumpen bandagieren sollst.«
»Sie haben mich heute beobachtet«, erwidert Olga leise. »Die Genossen Slotkow und Pritkin. Ich weiß, dass sie über Papa informiert sind. Ich konnte nicht aufhören, um die Bandagen zu erneuern.«
Vera runzelt die Stirn. Letzte Woche hat ihre Schwester schon mal so etwas gesagt, aber jetzt bemerkt sie, dass etwas nicht stimmt. Olga meidet ihren Blick. Sie haben schon Mädchen in den Gräben sterben sehen. Erst gestern war Olga einen halben Tag taub von einer Bombe, die in ihrer Nähe einschlug.
Draußen geht die
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