Ein Garten im Winter
wie ihre Mutter sich ihr näherte, bis sie plötzlich nur noch einige Zentimeter voneinander entfernt waren. Jetzt endlich konnte sie die Augen ihrer Mutter sehen.
»Ich erzähle meine Geschichte, um es zu erklären.«
»Wenn sie zu Ende erzählt ist: Werde ich dann verstehen, was ich falsch gemacht habe?«
Das Gesicht ihrer Mutter schien im Zwielicht zu zerknittern wie Wachspapier. »Wenn alles vorbei ist, wirst du verstehen, dass du gar nichts falsch gemacht hast. Aber jetzt kommt zu mir. Ich erzähle euch heute Abend von der Front an der Luga.«
»Bist du sicher? Es ist doch schon so spät.«
»Ich bin sicher.« Sie verschwand in ihrer Kabine.
Meredith ging hinein und sah, dass Nina auf dem Bett saß und sich die kurzen schwarzen Haare mit einem Handtuch abrubbelte.
»Draußen sieht man nichts mehr, oder?«
»Mom will uns die Geschichte weiter erzählen.«
»Heute Abend noch?« Nina sprang auf, ließ das feuchte Handtuch fallen und eilte in den hinteren Teil der Kabine.
Meredith hob das Handtuch auf, brachte es ins Bad und hängte es auf.
»Bist du fertig?«, fragte Nina vor der Tür.
Meredith drehte sich um und sah ihre Schwester an. »Du hast Flügel.«
»Was?«
»Vielleicht bin ich eher wie ein Strauß oder ein Dodo. Ich bin so lange auf dem Boden geblieben, dass ich nicht mehr fliegen kann.«
Lachend legte Nina einen Arm um Meredith und verließ mit ihr die Kabine. »Du bist kein Strauß. Nebenbei gesagt, sind Strauße ziemlich bösartig und leben immer allein.«
»Was bin ich dann?«, fragte Meredith, als Nina an die Kabinentür ihrer Mom klopfte.
»Vielleicht ein Schwan. Die paaren sich fürs Leben, weißt du? Vielleicht können sie nicht allein fliegen.«
»Aus deinem Mund eine so romantische Vorstellung? Das passt gar nicht zu dir.«
»Mag sein«, sagte Nina und sah sie an. »Aber zu dir.«
Meredith war überrascht. Sie hätte sich selbst nie als romantisch bezeichnet. Das traf eher auf Menschen wie ihren Vater zu, der jeden bedingungslos liebte und ein Meister großer Gesten war. Oder auf Menschen wie Jeff, der nie vergaß, ihr einen Gutenachtkuss zu geben, ganz gleich, wie spät es war oder wie schwer sein Tag gewesen war.
Vielleicht aber auch traf es auf junge Mädchen zu, die schon früh ihren Seelenverwandten trafen und nicht erkannten, wie selten das war.
Die Tür ging auf. Da stand ihre Mutter, mit gelöstem weißem Haar und einem überdimensionalen blauen Bademantel vom Kreuzfahrtschiff. Die Farbe war so ungewöhnlich für ihre Mutter, dass Meredith stutzte.
Dann dämmerte es ihr. »Vera kann Farben sehen«, sagte sie.
Nina stockte der Atem. »Das stimmt! Also kannst du auch Farben sehen.«
»Nein«, widersprach sie.
»Aber wie –«
»Keine Fragen«, erklärte sie entschieden. »Das ist die Regel.« Sie setzte sich auf ihr Bett und lehnte sich gegen einen Stapel Kissen.
Meredith folgte Nina in die Kabine und nahm neben ihr auf dem Sofa Platz. Schweigen senkte sich über sie, bis sie nur ihren Atem und das Schlagen der Wellen am Schiff hörten.
»Vera fasst es nicht, dass sie schon wieder ihre Kinder allein lassen muss«, setzte die Mutter sanft und doch kraftvoll an. Sie wirkte nicht mehr alt und zerbrechlich. Im Gegenteil, sie hatte die Augen geschlossen und lächelte fast.
»Vor allem, wo es sie so viel Mühe gekostet hat, sie nach Hause zu bringen. Aber jetzt ist Leningrad eine Stadt der Frauen geworden, die ihre Heimat gegen die Deutschen verteidigen müssen, daher verabschiedet sich Vera an einem sonnigen warmen Tag
zum zweiten Mal in einer Woche von ihren Kindern. Sie sind vier und fünf, viel zu jung, um ohne ihre Mutter zu sein, aber der Krieg verändert alles, und wie ihre Mutter vorhergesagt hat, muss Vera Dinge tun, die einen Monat zuvor noch unvorstellbar für sie gewesen wären. In der kleinen Wohnung kniet sie sich vor aller Augen vor sie. »Tante Olga und Mama müssen mithelfen, damit Leningrad vor den Deutschen geschützt wird. Während wir getrennt sind, müsst ihr beide sehr tapfer und vernünftig sein, versprochen? Baba wird eure Hilfe brauchen.«
Sofort füllen sich Leos Augen mit Tränen. »Du sollst nicht weggehen.«
Vera erträgt den traurigen Blick ihres Sohnes nicht, daher wendet sie sich zu ihrer Tochter, die sie schon jetzt als die Stärkere von beiden ansieht.
»Und wenn du nicht wiederkommst?«, fragt Anja leise und bemüht sich tapfer, nicht zu weinen.
Da greift Vera in die Tasche und sucht den Schatz, den sie eigentlich mitnehmen
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