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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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Alarmsirene los. Von den Bombern hört man zunächst nur ein fernes Brummen, wie von einer Biene beim Sommerpicknick. Aber es wird immer lauter, und im gleichen Maße steigt spürbar die Angst in der Scheune. Die Mädchen rutschen unruhig hin und her oder legen sich flach auf den Boden, denn sie können nirgendwohin fliehen.
    Bomben fallen. Feuer blitzt rot, gelb und schwarz durch die Ritzen der Scheunenwände. Irgendwo schreit jemand. Die Luft wird grau und staubig. Vera brennen die Augen.
    Olga krümmt sich zusammen, rührt sich aber nicht. Sie starrt auf ihre wunde Handfläche und beginnt systematisch, sich die Hautfetzen abzureißen. Blut quillt aus ihren Wunden.
    »Lass das«, verlangt Vera und zieht Olga die Hand weg.
    »Honig.«
    Vera hört, wie dieses Wort gesprochen wird. Zuerst begreift sie nicht, denn ihre gesamte Aufmerksamkeit ist auf die Bombardierung gerichtet. Neben ihr weint jemand.
    Dann hört sie es wieder: »Honig.«
    Die alte Frau ist jetzt näher zu ihnen gerückt. Sie hat tiefe Falten um den Mund und rötliche Tränensäcke unter den Augen. Sie holt ein kleines Fläschchen aus ihrer Schürzentasche. »Gib Honig auf die Wunden deiner Schwester.«
    Vera ist sprachlos angesichts dieser Großzügigkeit. Hier an der Front ist Honig kostbarer als Gold. Es ist Nahrung und Medizin in einem.
    »Warum tun Sie das?«, fragt sie und verreibt einen kleinen Tropfen auf Olgas Wunden.
    Die Frau sieht sie an. »Wir haben nur noch uns«, erklärt sie und schiebt sich zurück an ihren Platz zwischen den Heuballen.
    »Wie heißen Sie?«, fragt Vera.
    »Das ist doch egal«, antwortet die Frau. »Pass gut auf deine Schwester auf. Ich hab schon andere mit solchen Augen gesehen. Es geht ihr nicht gut.«
    Vera nickt tapfer, obwohl nackte Angst sie bei diesen Worten durchfährt. Sie hat sich selbst schon einreden wollen, dass Olga nur vor lauter Erschöpfung und Hunger so seltsam ist, aber jetzt sieht sie, was die alte Frau gesehen hat: einen Anflug von Irrsinn in Olgas weit aufgerissenen Augen. Olga erträgt es nicht: die ständigen Schreie, die endlose Arbeit, in Stücke gerissene Menschen, die allgegenwärtige Gefahr. Das ist das Schlimmste: Olga wird immer verwirrter. Sie spricht mit sich selbst und schläft kaum noch. Sie reißt sich die Haare büschelweise aus.
    »Komm her, meine Kleine«, fordert Vera sie auf und zieht sie in ihre Arme. Sie kriechen zurück auf ihr Lager aus Heu, das weder weich ist noch süß duftet.
    »Ich kann Papa sehen«, sagt Olga mit verträumter Stimme. Es ist, als hätte sie vergessen, wer sie sind, wo sie sind und von wem sie nicht sprechen dürfen.
    »Schsch.«
    »Erzähl mir eine Geschichte, Vera. Über Prinzessinnen und Jünglinge, die einem Rosen schenken.«
    Vera ist zu Tode erschöpft, aber sie streicht ihrer Schwester über die schmutzigen, verfilzten Haare und nutzt das Einzige, das ihr verblieben ist, um sie beide aufzumuntern: ihre Stimme. »Das Schneereich ist eine magische Stadt mit hohen Mauern, wo es niemals Nacht wird und weiße Tauben auf Telefonmasten nisten …«
    Olga ist schon längst eingeschlafen, da reiht Vera immer noch ihre schönsten Wörter aneinander und verändert damit auf die ihr einzig mögliche Weise die Welt. Als sie selbst ihre Augen nicht länger offen halten kann, küsst sie die Handfläche ihrer Schwester und schmeckt die Mischung aus metallischem Blut und süßem Honig. Sie hätte sich ebenfalls Honig auf ihre Blasen geben sollen, aber es ist ihr nicht eingefallen. »Schlaf jetzt.«
    »Sehen wir Mama morgen?«, fragt Olga verschlafen.
    »Nein, morgen nicht«, antwortet Vera und zieht sie fester an sich. »Aber bald.«
    Der Tag ist sonnig und warm. Wenn nicht die Deutschen alles unter Bomben begrüben und ihre Panzer vorwärts und immer weiter rollten, dann würden hier Vögel singen und die Kiefern um sie herum wären grün und nicht schwarz. Aber jetzt ist alle Schönheit verschwunden. Der Graben ist eine riesige, klaffende Wunde in der Erde, eine tödliche Verletzung. Überall kriechen Mädchen herum. Soldaten rennen zwischen den Gräben und der nahen Frontlinie hin und her. Wenn diese Frontlinie zusammenbricht, wenn die Deutschen sie überwinden können, wird Leningrad fallen. Davon sind alle überzeugt. Deshalb graben sie immer weiter, auch wenn ihre Hände bluten und die Bomben so allgegenwärtig sind wie die Sonne.
    Vera versucht, sich nur auf den Löffel in ihrer Hand zu konzentrieren. In der Woche zuvor ist die Spitzhacke zerbrochen. Eine

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