Ein Garten im Winter
Weile hatte sie das Glück, mit einer Schaufel graben zu können, aber sie hat sie nicht gut genug versteckt: Als sie eines Morgens aufwachte, war sie weg. Jetzt muss sie mit einem Servierlöffel graben.
Den ganzen Tag: einstechen, herunterdrücken, drehen, herausziehen. Bis die Schulter weh tut, der Nacken schmerzt und ihre wunden Hände brennen. Gegen die Blasen hilft auch kein Salzwasser (die alte Frau mit ihrem Honig ist längst verschwunden). Und jetzt hat sie auch noch ihre Regel. Offenbar hat sich ihr Körper gegen sie gewandt, und doch macht sie sich nur Sorgen um Olga. Ihre Schwester gräbt, ohne zu klagen, aber sie schläft und isst nicht mehr, und wenn die Bomben fallen, steht sie einfach nur da, schirmt mit einer Hand die Augen ab und starrt hinauf zu den Flugzeugen.
In den letzten Wochen hat Vera gelernt, dass man sich an alles gewöhnen kann: auf nackter Erde schlafen, rennend in Deckung gehen, Löcher graben, Menschen sterben sehen, über Leichen treten, verbranntes Fleisch riechen. Aber an eins kann sie sich nicht gewöhnen: an die neue Olga, die sich wie eine Blinde bewegt und aufgeregt lacht, wenn um sie herum Bomben explodieren.
Bombenalarm. Mädchen und Frauen rennen rund um den Graben durcheinander. Sie schreien sich an und stoßen sich beiseite.
Olga steht in ihrem schmutzigen, zerrissenen Kleid am Graben. Ihr langes rotblondes Haar ist verfilzt und fransig und wird nur von einem ehemals blauen Kopftuch aus ihrem rußschwarzen Gesicht gehalten. Deutsche Bomber dröhnen über ihre Köpfe hinweg.
Vera ruft laut nach ihrer Schwester, während sie über Erdhaufen klettert, sich einen Weg durch die Menge bahnt und Abraum beiseiteschiebt. »Los, komm –«
»Es klingt wie Mamas Nähmaschine.«
Da dreht Vera sich um und blickt zurück. Olga steht immer noch da, zu weit entfernt, und sieht mit abgeschirmten Augen zum Himmel.
»Renn«, schreit Vera genau in dem Moment, als die Bombe einschlägt.
Gerade war Olga noch da, doch jetzt ist sie weg, wie eine Lumpenpuppe durch die Luft gewirbelt. Sie landet auf der anderen Seite des Grabens auf einem Erdhaufen, während es um sie herum Trümmer regnet …
Vera schreit und weint, kriecht aus dem Graben, über den Erdwall zu dem Haufen aus Erde und Schutt, unter dem ihre Schwester liegt. Auf Olgas Brust sieht sie einen Ziegelstein – wie ist der dahin gekommen?
Blut rinnt aus Olgas Mund und bahnt sich einen Weg über ihre verschmierte Wange. Sie atmet nicht mehr, sondern hustet schaumigen Schleim. »Vera«, sagt sie und erschauert, »ich hab vergessen, runterzugehen …«
»Du solltest besser auf mich hören«, erwidert Vera. Sie drückt ihre Schwester an die Brust und versucht, sie durch die schiere Kraft ihrer Liebe am Leben zu erhalten. »Ich bin doch deine große Schwester.«
»Ständig … schikanierst du … mich.«
Vera küsst ihre Schwester auf die Wange, versucht, das Blut wegzuwischen, aber ihre Hände sind so schmutzig, dass alles nur noch mehr verschmiert. »Ich hab dich lieb, Olga. Lass mich nicht allein. Bitte …«
Olga lächelt und hustet. Blut schießt ihr aus der Nase und vermischt sich mit dem Schmutz. »Weißt du noch, wie wir –«
Und dann ist sie fort.
Eine lange Zeit sitzt Vera nur da, auf den Knien im Dreck. Bis die Soldaten kommen und Olga mitnehmen.
Dann macht sie sich wieder ans Graben. Nicht, weil es ihr egal ist oder sie nicht trauert.
Aber was soll sie sonst tun?
Zweiundzwanzig
Im August wird Vera von der Arbeit am Graben freigestellt. Sie ist eine von Tausenden verstörter, einsamer Frauen, die in schweigenden Gruppen nach Hause wandern. Zwar fahren die Züge noch, aber meist sind sie voll, und nur wenn man Glück hat, findet man einen Platz zum Stehen oder gar zum Sitzen. Die Kinder werden wieder aus Leningrad evakuiert – diesmal mit ihren Müttern –, aber Vera vertraut der Regierung nicht mehr und wird dem Befehl diesmal nicht Folge leisten. Erst in der Woche zuvor hat sie gehört, dass ein Zug mit Kindern bei Mga bombardiert wurde. Ob das nun stimmt oder nicht, ist ihr egal. Ihr reicht es, dass es stimmen könnte.
Nachdem sie zwei Monate ständig gegraben oder rennend Schutz gesucht hat, ist sie zäher geworden. Zäh genug, um ihren Weg nach Hause zu finden, obwohl ihr die Gegend völlig fremd ist. Wenn sie Glück hat, nimmt sie ein Lastwagen oder Transporter ein Stück mit, aber auf das Glück hat sie sich noch nie verlassen, daher geht sie die größte Strecke nach Leningrad zu Fuß. Wann
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