Ein Garten im Winter
sicheren Ort verschickt. Weitere wichtige Werke lagern im Keller der Bibliothek, und der gesamte Dachboden ist mit Sandsäcken gefüllt. Saal für Saal wird ausgeräumt, die Fenster werden zugenagelt, die Türen verschlossen, bis nur noch ein ganz kleiner Lesesaal für Besucher offen steht.
Am Ende ihrer Schicht hat Vera Rückenschmerzen vom ständigen Heben und Schleppen der Kisten, aber ihr Tag ist noch lange nicht zu Ende. Anstatt nach Hause zu gehen, eilt sie durch die geschäftigen Straßen, die mit Tarnnetzen behängt sind, und stellt sich in der ersten Schlange an, auf die sie trifft.
Sie weiß nicht, was dort verkauft wird, und es ist ihr auch gleich. Seit die Lebensmittel rationiert und Abhebungen von der Bank limitiert wurden, nimmt man, was man kriegen kann. Wie die meisten ihrer Freunde und Nachbarn hat Vera kaum Geld. Ihre Rationen erlauben ihnen vierhundert Gramm Brot pro Tag und sechshundert Gramm Butter im Monat. Davon können sie leben. Aber jetzt denkt sie oft über eine Entscheidung nach, die sie vor Jahren getroffen hat: Wenn sie jetzt in der Brotfabrik arbeitete, hätte ihre Familie mehr zu essen. Sie wäre eine wichtigere Arbeiterin mit höheren Rationen.
Stundenlang steht sie an. Kurz nach zehn Uhr abends landet sie endlich ganz vorn. Mittlerweile gibt es nur noch Gläser mit eingelegten Gurken, und sie kauft drei – mehr kann sie sich nicht leisten und nicht tragen.
Als sie in die Wohnung zurückkommt, sitzen ihre Mutter und ihre Großmutter am Küchentisch und teilen sich eine Zigarette.
Ohne ein Wort – in letzter Zeit sprechen sie kaum noch – geht sie an ihnen vorbei zum Bett der Kinder. Sie beugt sich vor und gibt beiden einen sanften Kuss auf die Wange. Erschöpft und hungrig geht sie zurück in die Küche. Ihre Mutter hat einen Teller mit kalter Kascha für sie bereitgestellt.
»Heute ist der letzte Transporter gefahren«, bemerkt die Großmutter, als Vera sich setzt.
Vera sieht sie an. »Ich dachte, die Evakuierung der Stadt würde noch andauern.«
Die Mutter schüttelt den Kopf. »Wir konnten uns nicht entschließen. Jetzt ist uns die Entscheidung abgenommen worden.«
»Die Deutschen haben Mga eingenommen.«
Vera weiß, was das heißt. Wüsste sie es nicht, reichte die Verzweiflung im Blick ihrer Mutter aus, um ihr die Tragweite der Information deutlich zu machen. »Also …«
»Ist Leningrad eine Insel«, sagt die Mutter, nimmt einen Zug von der Zigarette und gibt sie der Großmutter zurück. »Von allen Seiten vom Vaterland abgeschnitten.«
Und damit von allem Nachschub.
»Was machen wir jetzt?«, fragt Vera.
»Machen?«, fragt die Großmutter zurück.
»Der Winter kommt«, unterbricht die Mutter das darauf einsetzende Schweigen. »Wir brauchen Lebensmittel und einen Holzofen. Morgen gehe ich mit den Kindern zum Markt.«
»Was willst du denn eintauschen?«
»Meinen Ehering«, sagt sie.
»Es geht also wieder los«, bemerkt die Großmutter und drückt die Zigarette aus.
Vera sieht, dass sie einen Blick wechseln, der wissend und traurig zugleich ist, und obwohl ihr dieser Blick Angst macht, ist er auch irgendwie tröstlich. Denn ihre Mama und ihre Babuschka haben das alles schon einmal erlebt. Der Krieg ist nichts Neues in der Stadt Peters des Großen. Sie werden überleben, wie sie schon einmal überlebt haben: mit Vorsicht und List.
Die ganze Stadt wird zu einer einzigen Schlange. Alles schwindet, vor allem die Höflichkeit. Die Rationen werden ständig gekürzt, und oft gibt es nicht mal mit Lebensmittelkarten etwas zu essen. Wie alle anderen ist Vera ständig müde, hungrig und verängstigt. Um vier Uhr morgens steht sie auf, um sich für Brot anzustellen, und nach der Arbeit verlässt sie die Stadt und geht meilenweit, um Tauschgeschäfte mit Bauern zu machen: einen Liter Wodka gegen einen Sack verschrumpelter Kartoffeln; ein zu klein gewordenes Paar Stiefel gegen ein Pfund Schweineschmalz. Unterwegs gräbt sie Gemüse aus, das bei der Ernte vergessen wurde.
Das ist gefährlich, und sie weiß es, doch ihr bleibt nichts anderes übrig. Die Suche nach Nahrung ist das Einzige, was noch zählt. Mittlerweile besucht niemand mehr die Bibliothek, aber Vera muss weiter dorthin, um ihre Lebensmittelrationen zu erhalten.
Gerade kommt sie vom Land zurück. Sie bewegt sich schnell und verstohlen, hält sich stets im Schatten und drückt den kostbaren Sack Kartoffeln an sich, den sie unter ihrem Kleid versteckt hat wie ein ungeborenes Baby.
Nicht mal einen
Weitere Kostenlose Bücher