Ein Garten im Winter
immer sie Soldaten begegnet, fragt sie nach Sascha, bekommt allerdings keine Antwort. Auch das überrascht sie nicht.
Als sie Leningrad schließlich erreicht, sieht sie, dass die Stadt sich genauso verändert hat wie sie selbst. Alle Fenster sind verdunkelt. Gräben durchziehen die Parks, mitten durch Gras und Blumen. Wohin sie auch blickt, liegen Haufen aus Zementbrocken – Drachenzähne werden sie genannt –, um die Panzer aufzuhalten. Riesige schmiedeeiserne Stangen riegeln die Stadtgrenzen ab wie ein hässliches, deplatziertes Gefängnisgitter. Überall marschieren Soldaten durch die Stadt. Viele von ihnen sehen schon so gebrochen aus, wie Vera sich fühlt. Sie haben an einer Front verloren und werden an eine andere abbeordert, die näher an der Stadt liegt. In ihren müden Augen sieht sie dieselbe Furcht, die auch sie empfindet: Leningrad ist nicht so uneinnehmbar, wie sie einst gedacht hatte. Die Deutschen rücken näher …
Endlich steht Vera in ihrer Straße und blickt zu ihrer Wohnung hinauf. Bis auf die verklebten Fenster sieht alles so aus wie sonst. Die Bäume vor ihr tragen ihr Sommerlaub, und der Himmel ist strahlend blau.
Als sie so dasteht und zögert, durchfährt sie ein Gefühl, das so mächtig ist wie Hunger oder Begierde. Sie erschauert davon.
Es ist der Wunsch, sich umzudrehen und wegzurennen, die schreckliche Wahrheit noch ein wenig länger zurückzuhalten. Aber sie weiß, dass Weglaufen nichts nützt, daher holt sie tief Luft und geht langsam, einen Schritt nach dem anderen, bis sie vor ihrer Wohnungstür steht.
Sie stößt sie auf, und plötzlich ist sie wieder zu Hause, so klein und schäbig es auch sein mag. Noch nie waren alte Möbel und abblätternde Wände so schön.
Und da ist ihre Mama. Sie steht mit einem zerschlissenen Kleid und einem alten Kopftuch am Herd und rührt in einem Topf. Als Vera eintritt, dreht sie sich langsam um. Ihr strahlendes Lächeln ist herzzerreißend. Aber noch mehr schmerzt es, als es einem Ausdruck der Sorge weicht. Nur eine von ihren Töchtern ist nach Hause gekommen.
»Mama!«, ruft Leo, lässt sein Spielzeug fallen und stürmt zu ihr. Eine Sekunde später ist auch Anja da und beide stürzen sich in Veras Arme.
Sie riechen so gut, so sauber … Leos Wangen sind so glatt und süß wie reife Pflaumen. Vera würde ihn am liebsten auffressen. Sie drückt ihre Kinder zu lange und zu fest an sich und merkt nicht, dass sie zittert und weint.
»Weine nicht, Mama«, sagt Anja und wischt ihr über die Wange. »Ich hab den Schmetterling noch. Er ist nicht kaputtgegangen.«
Langsam lässt Vera sie los und steht auf. Sie zittert wie Espenlaub und versucht, ihre Tränen zurückzudrängen, als sie quer durch die Küche zu ihrer Mutter blickt. Sie spürt, dass mit diesem Blick der letzte Rest ihrer Kindheit verschwindet.
»Wo ist Tante Olga?«, fragt Leo und späht hinter sie.
Vera bringt kein Wort heraus. Sie steht einfach nur da.
»Olga ist fort«, sagt die Mutter, und ihre Stimme zittert kaum merklich. »Unsere Olga ist jetzt eine Heldin, und so müssen wir sie in Erinnerung behalten.«
»Aber …«
Die Mutter nimmt Vera in die Arme und drückt sie so fest an sich, dass beide kaum noch Luft bekommen. Keine sagt etwas, und in diesem Schweigen fließen Erinnerungen zwischen ihnen hin und her wie Tinte in Wasser. Als sie sich schließlich voneinander lösen und sich ansehen, begreift Vera:
Sie werden nicht mehr von Olga sprechen, so lange nicht, bis der Schmerz seine Schärfe verloren hat und sie sich ihm stellen können.
»Du brauchst ein Bad«, bemerkt die Mutter nach einer Weile. »Und der Verband an deinen Händen muss gewechselt werden, also komm mal mit.«
Die ersten Tage nach ihrer Heimkehr kommen Vera vor wie ein Traum. Am Tag arbeitet sie in der Leningrader Bibliothek und packt mit den anderen Angestellten die wertvollsten Bücher für den Abtransport ein. Sie, die in der Hierarchie so weit unten steht, ertappt sich plötzlich mit einer Erstausgabe von Anna Karenina in der Hand. Das Buch ist überraschend schwer, und einen kurzen Moment schließt sie die Augen und sieht Anna vor sich, wie sie in Pelz und Juwelen durch den Schnee zu Graf Wronski rennt.
Da ruft jemand so laut ihren Namen, dass sie fast das kostbare Buch fallen lässt. Erschrocken und mit brennenden Wangen senkt sie den Blick und murmelt: »Verzeihung.« Dann macht sie sich wieder an die Arbeit. Am Ende der Woche haben sie über 350 000 Meisterwerke verpackt und an einen
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