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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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und versucht, ihrer Stimme einen beruhigenden Klang zu geben. Das fällt ihr schwer, denn ihre Gedanken kreisen immer noch darum, was hätte passieren, was sie hätte verlieren können. Außerdem könnte sie schwören, immer noch die Bombe zu hören, die auf sie zuzischt, im Flug seltsam knistert und dumpf neben ihr einschlägt.
    »Ihr Name ist Vera«, sagt Anja schläfrig und schmiegt sich an sie. »Stimmt’s?«
    »Ihr Name ist Vera«, bestätigt sie, dankbar für das Stichwort. »Und sie ist ein armes Bauernmädchen, ein Niemand. Aber das weiß sie noch nicht …«
    »Gut, dass du ihnen deine Geschichte erzählst«, bemerkt die Mutter, als Vera zum Küchentisch zurückkommt.
    »Mir ist nichts anderes eingefallen.« Sie nimmt gegenüber ihrer Mutter Platz und legt einen Fuß auf den Stuhl neben ihr. Obwohl die Fenster abgeklebt sind, schmeckt sie immer noch die Asche auf ihrer Zunge und riecht den süßlich-verbrannten Duft in der Luft. Die Welt draußen ist nur bruchstückhaft zu sehen, dort, wo sich das Zeitungspapier von der Scheibe gelöst hat; es ist nicht länger rot, sondern eher eine Mischung aus mattem Goldorange und Grau. »Weißt du noch, was für schöne Geschichten mir Papa früher erzählt hat?«
    »Ich denke lieber nicht daran.«
    »Aber –«
    »Deine Großmutter müsste längst zu Hause sein«, sagt sie, ohne Vera anzusehen.
    Vera spürt, wie sich ihr Magen zusammenkrampft. Im Bombenalarm hat sie ihre Großmutter ganz vergessen.
    »Ihr geht es sicher gut«, sagt Vera.
    »Ja«, erwidert Mama dumpf.
    Aber am nächsten Morgen ist die Großmutter immer noch nicht zurück. Sie ist eine von Tausenden, die spurlos verschwunden sind. Und durch die Stadt dringt eine Nachricht, die genauso verheerend ist wie das Feuer der letzten Nacht.
    Die Badajew-Lager haben gebrannt. Die Lebensmittelvorräte der gesamten Stadt sind in Flammen aufgegangen.
    Leningrad ist jetzt isoliert, von allem abgeschnitten. Der September naht dem Oktober und verschwindet. Die Weißen Nächte sind lange vorbei, der kalte, dunkle Winter tritt an ihre Stelle. Vera arbeitet immer noch in der Bibliothek, aber lediglich zum Schein – für die Lebensmittelkarten. Nur noch wenige besuchen die Bibliothek, die Museen oder Theater, und wenn, dann nur, um sich aufzuwärmen. In diesen Wochen, die immer mehr Dunkelheit und den eisigen Hauch des Winters mitbringen, zählt nichts als die Suche nach Nahrung.
    Jeden Tag steht Vera um vier Uhr morgens auf, zieht Stiefel und Mantel an und schlingt sich einen Schal ums Gesicht, bis nur noch ihre Augen zu sehen sind. Sie stellt sich in der ersten Schlange an, die sie findet; es ist nicht mehr leicht, Schlange zu stehen, geschweige denn, etwas zu essen zu finden. Die Stärkeren schubsen die Schwächeren beiseite. Man muss immer aufpassen und auf der Hut sein. Das nette junge Mädchen an der Ecke könnte einem etwas stehlen, genau wie der alte Mann da unter dem Vordach.
    Nach der Arbeit kommt sie heim in die kalte Wohnung, für das Abendessen um sechs Uhr. Nur dass es kaum noch etwas zu essen gibt. Eine Kartoffel, wenn sie Glück haben, mit Kascha, die aus mehr Wasser als Buchweizen besteht. Die Kinder quengeln ständig, während die Mutter leise in der Ecke hustet …
    Im Oktober fällt der erste Schnee. Normalerweise ist dies eine fröhliche Zeit, in der Kinder mit ihren Eltern in die Parks laufen und im Schnee spielen und Burgen bauen. Aber jetzt ist Krieg, und mit diesen winzigen weißen Flocken rieselt der Tod über die zerstörte Stadt. Eine hübsche weiße Schicht bedeckt ihre Verteidigungsmaßnahmen – die Drachenzähne, die Eisenstangen, die Gräben. Plötzlich ist die Stadt wieder schön, ein Winterwunderland aus weißen Parklandschaften, geschwungenen Brücken und gefrorenen Flüssen. Wenn man nicht gerade auf die eingefallenen Gebäude oder Bombenkrater blickt, wo früher Läden standen, könnte man den Krieg fast vergessen … bis es sieben Uhr wird. Dann werfen die Deutschen ihre Bomben. Jeden Abend, pünktlich auf die Minute.
    Als der Schnee erst einmal zu fallen beginnt, hört er nicht mehr auf. Rohre frieren zu. Bahnen können nicht mehr fahren und bleiben einfach im Schnee stecken. Auf den Straßen sind keine Panzer und Lastwagen mehr zu sehen, genauso wenig wie marschierende Truppen. Nur noch ein paar arme, vermummte Frauen wie Vera, die wie Flüchtlinge durch die weiße Landschaft irren und nach irgendetwas Essbarem suchen. Haustiere sieht man schon lange nicht mehr. Die Rationen

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