Ein Garten im Winter
werden wöchentlich kleiner.
Vera kämpft sich voran. Vor lauter Hunger kann sie sich kaum noch bewegen. Manchmal will sie es auch nicht mehr. Sie versucht, nicht daran zu denken, dass sie bereits seit sieben Stunden ansteht, und konzentriert sich stattdessen auf das Sonnenblumenöl und die Ölkuchen, die sie bekommen hat. Hinter ihr gleitet der rote Schlitten, den sie zieht, durch den tiefen Schnee und stößt hier und da gegen ein verstecktes Hindernis – einen Ast, einen Stein, einen erfrorenen Menschen.
Seit der letzten Woche sieht man immer mehr Leichen; warm eingepackte Menschen, die auf Parkbänken oder Türschwellen einfach erfroren sind.
Man lernt, an ihnen vorbeizuschauen. Vera kann es nicht fassen, aber so ist es. Je größer Hunger und Kälte werden, desto mehr verengt sich die Sicht, bis man nur noch die eigene Familie sieht.
Sie ist noch vier Blöcke von ihrer Wohnung entfernt und hat schon solche Schmerzen in der Lunge, dass sie sich am liebsten ausruhen würde. Sie träumt sogar davon: Sie wird sich auf diese Bank setzen, sich zurücklehnen und die Augen schließen. Vielleicht kommt jemand mit heißem, süßem Tee vorbei und bietet ihr eine Tasse an …
Sie holt keuchend Luft und ignoriert den nagenden Schmerz in ihrem Magen. Genau solche Träume sind tödlich. Man setzt sich hin, um ein bisschen auszuruhen, und dann stirbt man. So ist das jetzt in Leningrad. Man hat ein bisschen Husten … oder eine infizierte Wunde … oder fühlt sich ein bisschen erschöpft und möchte sich ein Stündchen aufs Bett legen. Und auf einmal ist man tot. Jeden Tag, wenn sie in die Bücherei kommt, scheint einer mehr zu fehlen. Und die anderen wissen: Sie werden ihn nie mehr wiedersehen.
Vera setzt einen Fuß vor den anderen, bahnt sich langsam einen Weg durch den Schnee und zieht den Schlitten hinter sich her. Sie ist fast zwei Kilometer von der Newa gelaufen, wo sie aus einem Loch in der Eisdecke Wasser geholt hat. Vor dem Haus ruht sie sich nur lange genug aus, um wieder zu Atem zu kommen, dann macht sie sich an den langen Aufstieg in den zweiten Stock. Den Wasserkanister vom Schlitten drückt sie an die Brust. Er ist so eiskalt, dass ihre Lungen noch mehr schmerzen.
In der Wohnung ist es warm. Ihr fällt sofort auf, dass ein weiterer Stuhl in Einzelteile zerlegt ist. Er liegt auf der Seite, zwei Beine fehlen, und die Rückenlehne ist kleingehackt worden. Jetzt können nicht mehr alle gleichzeitig am Tisch sitzen, aber was macht das schon? Sie haben ohnehin kaum zu essen.
Leo trägt seinen Mantel und seine Stiefel. Er liegt auf dem Küchenboden und spielt mit zwei Metallautos Krieg. Als sie eintritt, hebt er den Kopf und blickt zu ihr. Eine Sekunde lang kommt es ihr vor, als sei sie nicht nur einen Tag fort gewesen, sondern einen ganzen Monat. Sie sieht, dass seine Wangen eingefallen sind und seine Augen zu groß für sein knochiges Gesicht wirken. Er sieht überhaupt nicht mehr aus wie ein Kleinkind.
»Hast du Essen bekommen?«, fragt er.
»Ja, hast du?«, fragt auch Anja und steigt, eingewickelt in ihre Decke, aus dem Bett.
»Ölkuchen«, erwidert Vera.
Anja runzelt die Stirn. »Ach nein, Mama.«
Ihre Reaktion tut Vera in der Seele weh. Was gäbe sie darum, Kartoffeln mit nach Hause zu bringen, oder Butter oder auch nur Buchweizen. Aber jetzt haben sie Ölkuchen. Es ist ganz unwichtig, dass man damit früher das Vieh fütterte oder dass sie schmecken wie Sägemehl und so hart sind, dass man sie nur mit einer Axt klein kriegt. Die Ölkuchen werden aus Getreidespelzen hergestellt und sind kaum essbar. Aber all das ist unwichtig. Wichtig ist nur, dass sie etwas zu essen haben.
Vera weiß, dass Trost ihren Kindern nicht hilft. Diese Lektion hat sie gelernt, als es anfing zu schneien. Ihre Kinder brauchen jetzt Mut und Kraft, wie alle in Leningrad. Es ist nicht gut, über das zu jammern oder zu weinen, was man nicht haben kann. Also geht sie zu dem kaputten Stuhl und zieht noch ein Bein ab. Sie zerbricht es in zwei Teile, wirft diese in die Burschuika und stellt das mitgebrachte Wasser in einem Topf auf den Herd. Sie wird Hefe hineingeben, um ihre Mägen zu füllen. Natürlich wird es nichts helfen, aber eine Weile werden sie sich besser fühlen.
Sie beugt sich zu Leo, spürt den Schmerz in ihren Gelenken und legt ihre Hand auf Leos Locken. Seine Haare starren vor Schmutz, genau wie die der ganzen Familie. Baden ist neuerdings ein Luxus geworden. »Ich erzähle heute Abend die Geschichte weiter«,
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