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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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sagt sie und erwartet, dass er sich freut, doch er nickt nur und zuckt mit den Schultern.
    »Ist gut.«
    Die Kälte und der Hunger setzen ihnen allen zu. Seufzend richtet sie sich wieder auf und fühlt sich wie eine alte Frau. Sie blickt hinüber zu ihrer Mutter, die immer noch im Bett liegt. Sie fragt Anja: »Wie geht es ihr heute?«
    Anja steht da und ihr bleiches, schmales Gesicht ist so ausgezehrt, dass ihr die Augen aus dem Kopf zu quellen scheinen. »Sie ist still«, sagt sie nur. »Ich hab sie gezwungen, etwas zu trinken.«
    Vera geht zu ihrer kleinen, ernsten Tochter, nimmt sie auf den Arm und drückt sie fest an sich. Selbst durch den dicken Mantel spürt sie, wie herzzerreißend mager sie ist. »Du bist meine Beste«, flüstert sie. »Du sorgst so gut für alle.«
    »Ich gebe mir Mühe«, erwidert Anja und klingt so ernst, dass Vera flau im Magen wird.
    Vera drückt sie noch einmal an sich und lässt sie dann los.
    Als sie das Zimmer durchquert, spürt sie den Blick ihrer Mutter auf sich, die jede ihrer Bewegungen wie ein Falke beobachtet. Alles an ihr ist bleich, eingesunken und farblos, bis auf ihre dunklen Augen, die Vera fest an sich zu binden scheinen.
    Sie setzt sich zu ihr ans Bett. »Ich hab heute ein paar Ölkuchen bekommen. Und etwas Sonnenblumenöl.«
    »Ich habe keinen Hunger. Gib den Kindern meinen Anteil.«
    Das sagt die Mutter jeden Abend. Zuerst hat Vera protestiert, aber dann wurde Anjas Gesicht immer durchscheinender und ihr Sohn weinte im Schlaf vor Hunger.
    »Ich mach dir etwas Tee.«
    »Das wäre schön«, sagt die Mutter und schließt die Augen.
    Vera weiß, wie sehr ihre Mutter sich angestrengt hat, um während ihrer Abwesenheit wach zu bleiben. Sie muss ihre gesamte Willenskraft zusammennehmen, um einfach dazuliegen und die Kinder den Tag über im Auge zu behalten, obwohl sie seit Wochen nie länger als ein paar Minuten aus dem Bett war.
    »Nächste Woche gibt es mehr zu essen«, verspricht Vera. »Ich hab gehört, dass ein Lebensmitteltransport über den Ladoga-See kommt, sobald er zugefroren ist. Dann wird alles wieder gut.«
    Ihre Mutter sagt nichts darauf, ihre Atmung wird auch nicht regelmäßiger. »Weißt du noch, wie euer Papa beim Arbeiten immer in der Wohnung herumlief? Er murmelte ständig vor sich hin und lachte, wenn er fand, was er gesucht hatte.«
    Vera streckt die Hand aus und streicht ihrer Mutter über die Stirn. »Manchmal hat er mir beim Arbeiten seine Entwürfe vorgelesen. Dann sagte er: ›Veruschka, wenn du alt genug bist, deine eigenen Geschichten zu schreiben, wirst du vorbereitet sein. Aber jetzt hör dir das mal an …‹«
    »Manchmal spüre ich ihn bei mir. Olga auch. Ich höre sie sprechen, sich bewegen. Ich glaube, sie tanzen. Wenn sie da sind, ist Feuer im Ofen, und es ist warm.«
    Vera nickt nur. In letzter Zeit sieht die Mutter immer öfter Gespenster. Manchmal spricht sie auch mit ihnen. Sie hört nur auf, wenn Leo anfängt zu weinen.
    »Ich gebe ein bisschen Honig in deinen Tee. Und du musst heute was essen, ja? Nur heute.«
    Sie tätschelt Vera die Hand und seufzt leise.
    Jedes Mal, wenn Vera in diesem Winter aufwacht, denkt sie: Heute wird es besser und Bald ist alles vorbei. Sie weiß nicht, wie sie gleichzeitig glauben kann, dass ihre Lage sich bessert und dass sie sterben wird, aber so ist es eben. Jeden eisigen Morgen schreckt sie auf und greift nach ihren Kindern, die neben ihr im Bett liegen. Erst wenn sie ihren langsamen, stetigen Herzschlag fühlt, kann sie wieder ruhig atmen.
    Es braucht Mut, das Bett zu verlassen. Obwohl sie alle Kleider, die sie besitzt, übereinander angezogen und alle Decken über sich ausgebreitet hat, ist ihr doch nicht warm, und wenn sie aus dem Bett klettert, wird es eiskalt werden. Während sie schlafen, gefriert das Wasser in den Kochtöpfen, und ihre Wimpern kleben an ihrer Haut fest – manchmal so fest, dass sie bluten, wenn sie mühsam die Augen öffnen.
    Dennoch schiebt sie die Decken beiseite und klettert über ihre Kinder hinweg, die im Schlaf stöhnen. Die Mutter, die auf der anderen Seite liegt, gibt keinen Laut von sich, sondern rückt nur unmerklich beiseite. Sie schlafen alle zusammen in dem Bett, das ihrer Großmutter gehörte, um es wärmer zu haben.
    In Strümpfen geht Vera zum Ofen. Er steht nicht weit entfernt. Sie haben ihn so nah wie möglich ans Bett gerückt. Die restlichen Möbel sind zusammengestellt worden. Sie dienen nur noch als Holz zum Heizen. Vera nimmt die Axt vom Schrank und

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