Ein Garten im Winter
sondern Frau Newski«, sagt Anja, und ihre finstere Miene hellt sich kurz auf.
Leo kichert. »Sie stinkt nach Kohl.«
»Still!«, sagt Vera und fragt sich, wie lange Leos und Anjas Kindheit so aussehen soll. Sie knöpft Leos Mantel zu und nimmt seine Hand.
Draußen im Flur stehen die Nachbarn schon Schlange, um in den Keller zu kommen. Auf allen Gesichtern sieht man eine Mischung aus Angst und Resignation. Nicht einer glaubt ernsthaft, dass sie im Keller geschützt sind, sollte tatsächlich eine Bombe ihr Haus treffen. Andererseits gibt es mittlerweile keinen anderen Schutz mehr, also gehen sie hinunter.
Vera küsst ihre Kinder, drückt sie fest an sich und übergibt sie dann an ihre Mutter.
Während ihre Familie und die Nachbarn sich in den Keller flüchten, rennt Vera keuchend die dunkle, schmutzige Treppe hinauf und steigt auf das flache, trümmerübersäte Dach. An der Querseite befinden sich ein paar Eimer mit Sand und eine große, schmiedeeiserne Zange. Von hier aus kann sie über Leningrad hinweg nach Süden schauen. In der Ferne sieht sie Flugzeuge. Nicht eins oder zwei wie sonst, sondern Dutzende. Zuerst sind es nur winzige schwarze Punkte, die sich zwischen den riesigen Sperrballons über der Stadt hindurchschlängeln, aber schon bald kann sie ihre glänzenden Propeller und ihre Rümpfe genau sehen.
Wie Regen fallen die Bomben. Darauf folgt Feuer und Rauch.
Über ihr taucht ein Flugzeug auf.
Vera sieht, wie sich der glänzend silberne Rumpf öffnet. Brandbomben fallen heraus. Entsetzt sieht sie, dass eine davon nicht mal fünf Meter von ihr entfernt niedergeht. Sie hört ihr Zischen und fängt an zu rennen. Dann stolpert sie über ein Stück Holz und schlägt so hart auf dem Boden auf, dass sie Blut schmeckt. Sie richtet sich mühsam auf, holt die Handschuhe aus der Tasche und zieht sie zitternd so schnell wie möglich an. Dann greift sie nach der Eisenzange und versucht, die Bombe hochzuheben. Eine schwierige Aufgabe. Es dauert zu lange, und der Holzbalken unter der Bombe fängt Feuer. Rauch steigt auf. Sie richtet die Zange auf die Bombe – die Hitze in ihrem Gesicht ist furchterregend. Sie schwitzt so sehr, dass sie kaum etwas sieht. Trotzdem umklammert sie den Griff der Zange, hebt die Bombe an und wirft sie vom Dach des Gebäudes. Sie landet mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Rasen, wo sie kaum Schaden anrichten kann. Vera lässt die Zange fallen, rennt zu dem kleinen Feuer, das die Bombe ausgelöst hat, und tritt es aus. Danach streut sie Sand darüber.
Als das Feuer gelöscht ist, sinkt sie auf die Knie. Ihr Herz klopft rasend, und ihre Wangen fühlen sich an wie verbrannt. Wenn sie nicht da gewesen wäre, hätte sich die Bombe einen Weg durchs Gebäude gebrannt, wäre von Stockwerk zu Stockwerk gefallen und hätte eine verheerende Feuerspur hinterlassen.
Im Keller wäre sie gelandet. In dem winzigen Raum, in dem sich Dutzende von Menschen drängen. Ihre Familie …
Vera kniet dort auf dem harten Dach, während es Abend wird. Die ganze Stadt scheint zu brennen. Rauch steigt auf. Selbst als die Bomber schon lange verschwunden sind, bleibt der Rauch und wird immer dichter und röter. Grellgelbe und orangefarbene Flammen flackern zwischen den Häusern auf, züngeln am geschwollenen Bauch der Rauchwolken.
Als endlich Entwarnung gegeben wird, zittert Vera so sehr, dass sie sich nicht rühren kann. Nur der Gedanke an ihre Kinder, die wahrscheinlich Angst haben und weinen, gibt ihr die Kraft, wieder aufzustehen. Zittrig geht sie über das Dach, immer einen Schritt nach dem anderen, und dann die Treppe hinunter zu ihrer Wohnung, wo ihre Familie bereits auf sie wartet.
»Hast du Feuer gesehen?«, fragt Anja und beißt sich auf die Unterlippe.
»Ganz weit weg von hier«, antwortet Vera und lächelt so überzeugend, wie sie nur kann. »Wir sind hier in Sicherheit.«
»Erzählst du uns eine Geschichte, Mama?«, fragt Leo und steckt sich den Daumen in den Mund. Er kann kaum die Augen offen behalten.
Vera hebt ihre Kinder hoch und setzt sie sich auf die Hüften. Sie verzichtet aufs Zähneputzen, bringt sie ins Bett und legt sich mit ihnen hin.
Die Mutter sitzt am Tisch im Wohnzimmer und zündet sich ihre Zigarette des Tages an. Ihr Rauch verliert sich im überwältigenden Geruch der brennenden Stadt. Es liegt etwas Süßliches in der Luft, wie ein Duft von Karamellen, die zu lange im heißen Topf waren.
Vera drückt ihre Kinder fest an sich. »Es war einmal ein Bauernmädchen«, beginnt sie
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