Ein Garten im Winter
hackt das letzte Stück ihres eigenen Bettes klein. Dann macht sie Feuer in der kleinen Burschuika und stellt Wasser auf den Herd.
Während es heiß wird, kniet sie sich in eine Ecke der Küche und hebt eine Bodendiele an. Darunter sind ihre Vorräte versteckt. Sie zählt sie täglich, manchmal sogar viermal. Das ist mittlerweile fast ein Zwang geworden.
Ein Beutel Zwiebeln, eine halbe Flasche Sonnenblumenöl, ein paar Ölkuchen, ein fast leeres Glas Honig, zwei Gläser eingelegte Gurken, drei Kartoffeln und der letzte Rest Zucker. Vorsichtig nimmt sie eine große gelbe Zwiebel und den Honig heraus und drückt die Bodendiele wieder fest an. Sie wird eine halbe Zwiebel zum Frühstück kochen und einen Tropfen Honig in den Tee geben. Gerade hat sie eine kleine Menge Tee abgemessen, da klopft es an der Tür.
Zuerst kann sie nichts damit anfangen, weil es mittlerweile so ungewöhnlich ist. In Leningrad besucht man sich nicht mehr, um ein Schwätzchen zu halten. Niemand kommt mehr vorbei, zumindest nicht bei ihr, die ihre ganze Familie hier hat.
Außerdem ist es gefährlich. Es gibt Menschen, die für ein Gramm Butter oder einen Löffel Zucker töten würden.
Sie greift wieder nach ihrer Axt, drückt sie an die Brust und geht zur Tür. Ihr Herz klopft so heftig und schnell, dass ihr schwindelig wird. Zum ersten Mal seit Monaten vergisst sie ihren Hunger. Mit zitternder Hand greift sie nach dem Türknauf und dreht ihn.
Da steht er, wie ein Fremder.
Vera starrt kopfschüttelnd zu ihm hoch. Jetzt ist sie schon wie ihre Mama. Vor lauter Hunger und Elend sieht sie Gespenster. Die Axt fällt ihr aus der Hand und schlägt dumpf auf dem Boden auf.
»Veruschka?«, fragt er und runzelt die Stirn.
Als sie seine Stimme hört, spürt sie, dass auch sie fällt. Ihre Beine geben einfach nach. Wenn so Sterben ist, will sie gern aufgeben, und als seine Arme sie umschließen und sie stützen, weiß sie ganz sicher, dass sie tot ist. Sie spürt seinen warmen Atem an ihrem Hals; er hält sie aufrecht. So hat sie schon lange keiner mehr gehalten.
»Veruschka«, sagt er noch einmal, und sie hört die Frage in seiner Stimme, und die Angst. Er weiß nicht, warum sie nichts sagt.
Sie lacht. Es ist ein leiser, krächzender Laut. Unbeholfen, denn sie hat schon lange nicht mehr gelacht. »Sascha«, sagt sie. »Träume ich?«
»Ich bin wirklich da«, erwidert er.
Sie klammert sich an ihn, aber als er sie küssen will, zieht sie sich verlegen zurück. Ihr Atem riecht schrecklich, vor lauter Hunger ist er ganz faulig.
Aber er lässt sie nicht los. Er küsst sie so wie früher und einen süßen, perfekten Augenblick lang ist sie wieder Vera, ein zweiundzwanzigjähriges Mädchen mit ihrem geliebten Prinzen …
Als sie sich schließlich von ihm lösen kann, sieht sie ihn staunend an. Sein Haar ist ganz kurz geschoren, seine Wangenknochen stehen weiter hervor, und in seinem Blick liegt etwas Unbekanntes – Traurigkeit, denkt sie –, das zum Erkennungszeichen ihrer Generation werden wird. »Du hast nicht geschrieben«, sagt sie.
»Doch. Jede Woche. Aber es ist niemand da, der die Briefe ausliefert.«
»Bist du zurück? Bleibst du hier?«
»Ach, Vera. Nein.« Er drückt die Tür hinter sich zu. »Mein Gott, ist es kalt hier drinnen.«
»Aber wir haben noch Glück, weil wir eine Burschuika haben.«
Er öffnet seinen Mantel. Darunter kommen ein halber Schinken, sechs Würstchen und ein Glas Honig zum Vorschein.
Als Vera das sieht, wird ihr wieder schwindelig. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so etwas gegessen hat.
Sascha legt das Essen auf den Tisch. Er nimmt ihre Hand und geht mit ihr zum Bett, wobei er über die zerlegten Möbel auf dem Boden steigen muss. Am Bett blickt er auf seine schlafenden Kinder herunter.
Vera sieht, dass ihm Tränen in die Augen treten, und begreift. Ihre Kinder sind nicht mehr so weich und rundlich, wie Kinder sein sollten. Sie sehen aus, als würden sie verhungern.
Anja rollt sich im Bett herum und nimmt ihren kleinen Bruder mit. Sie schmatzt mit den Lippen und kaut im Schlaf – sie träumt. Dann öffnet sie langsam die Augen. »Papa?«, fragt sie. Mit ihrer scharf geschnittenen Nase, dem spitzen Kinn und den schmalen Wangen sieht sie aus wie ein kleiner Fuchs. »Papa?«, wiederholt sie und stößt Leo mit dem Ellbogen an.
Leo dreht sich um und öffnet die Augen. Er scheint nicht zu begreifen. Vielleicht erkennt er Sascha auch nicht. »Du sollst mich nicht hauen«, wimmert
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