Ein Garten im Winter
ein junges Mädchen namens Vera, das sich verliebte und Kinder bekam … und dann eine verängstigte Frau, die an der Luga-Front Gräben aushob und sich durch die zerbombte Landschaft kämpfte. Nina kamen die Tränen, als Olga starb, und noch einmal, als Veras Mutter starb.
»Sie ist tot«, sagt Mom mit schrecklicher Direktheit. »Ich höre meinen Sohn fragen: Was ist denn mit Baba? Und muss meine ganze Kraft zusammennehmen, um nicht
zu weinen.
Ich ziehe die Decke bis zu Mamas Brust und bemühe mich, nicht darauf zu achten, wie ausgezehrt ihr Gesicht im letzten Monat geworden ist. Hätte ich sie zwingen sollen, mehr zu essen? Diese Frage wird mich den Rest meines Lebens heimsuchen. Doch dann hätte eines meiner Kinder nicht genug zu essen bekommen, und wie hätte ich das zulassen sollen?
»Mama«, wiederholt Leo.
»Baba ist zu Olga gegangen«, erkläre ich, und mir bricht die Stimme, sosehr ich mich auch bemühe, stark zu bleiben. Da fangen meine Kinder an zu weinen.
Sascha tröstet sie. Ich finde keinen Trost mehr in mir. Ich bin bis auf die Knochen durchgefroren und habe Angst, einfach zu zerbrechen, wenn mich jemand berührt.
Lange Zeit sitze ich neben meiner Mutter, in unserer kalten, dunklen Wohnung, den Kopf zu einem Gebet gesenkt, das viel zu spät kommt. Dann fällt mir etwas ein, was sie vor langer Zeit zu mir gesagt hat. Damals war ich noch ein Kind und brauchte Trost. Wir werden nicht mehr von ihm sprechen.
Damals dachte ich, der Grund dafür sei, weil es zu gefährlich für uns war, doch als ich jetzt neben meiner Mutter sitze, spüre ich plötzlich, wie sie sich neben mir bewegt – wirklich, ich schwöre es –, sie berührt meine Hand und mir wird zum ersten Mal seit Monaten warm, und auf einmal begreife ich, was sie mir damals sagen wollte.
Geh weiter. Vergiss, wenn du kannst. Leb dein Leben.
Dieser Rat betraf nicht so sehr meinen Vater, sondern das Leben. Das, was der Tod einem antut. Als ich jetzt zu ihr hinunterblicke, sehe ich natürlich, dass sie sich nicht bewegt und ihre Haut kalt ist. Ich weiß, dass sie nicht wirklich mit mir gesprochen hat. Und doch habe ich sie gehört. Daher tue ich, was getan werden muss. Ich stehe auf und füge mich in meine neue Rolle. Ich bin jetzt eine Tochter ohne Mutter, eine Frau ohne Schwester. Von der Familie, in die ich geboren wurde, ist niemand mehr da. Jetzt habe ich nur noch die Familie, die ich selbst geschaffen habe.
Meine Mutter lebt in uns allen weiter, aber vor allem in mir. Anja hat von ihr den Ernst und die Stärke geerbt. Leo hat Olgas heiteres Gemüt. Und ich habe das Beste von beiden in mir und auch die Träume meines Vaters. Daher ist es meine Aufgabe, für sie weiterzuleben.
Plötzlich steht Sascha neben mir.
Er nimmt mich in die Arme, und ich presse mein Gesicht an seine kalte Halsbeuge.
»Eines Tages gehen wir von hier fort«, verspricht er. »Wir gehen nach Alaska, genau wie wir es uns vorgenommen haben. Es wird nicht immer so sein wie jetzt.«
»Alaska«, wiederhole ich und erinnere mich an seinen, an unseren Traum. »Das Land der Mitternachtssonne. Ja …«
Aber ein solcher Traum – jeder Traum – ist jetzt weit weg und verschlimmert nur den Schmerz.
Ich sehe ihn an, und obwohl er etwas sagt, sehe ich in seinen grünen Augen, was er denkt. Vielleicht sind es auch meine eigenen Gedanken, die sich darin spiegeln. Jedenfalls lösen wir uns voneinander, und Sascha sagt zu unseren zusammengesunkenen, verweinten Kindern: »Mama und ich müssen uns um Baba kümmern.«
Leo, der auf dem Küchenboden sitzt, fängt wieder an zu weinen, aber es ist nur ein schwaches Echo seines früheren Weinens. Das weiß ich. Ich hab gesehen, wie er in Tränen ausbrach, als er noch gesund war. Jetzt … rinnt einfach Wasser aus seinen Augen, und er sitzt da und kann sich vor lauter Hunger und Erschöpfung kaum noch rühren.
»Wir bleiben hier, Papa«, erklärt Anja ernst. »Ich kümmere mich um Leo.«
»Meine lieben Kinder«, sagt Sascha. Er beschäftigt sie, während ich Mama wasche und ihr ihr bestes Kleid anziehe. Ich versuche zu übersehen, wie klein und mager sie geworden ist … eigentlich erinnert sie kaum noch an meine Mutter, aber …
Es stimmt, was man sagt: Kinder werden zu Erwachsenen, die wieder zu Kindern werden. Ich muss unwillkürlich an diesen Kreislauf denken, während ich den Leib meiner Mutter wasche, ihr Kleid zuknöpfe und ihr Haar aufstecke. Als ich fertig bin, sieht sie aus, als schliefe sie. Ich beuge mich
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