Ein Garten im Winter
wiederholt er träumerisch und sinkt auf sein flaches Kissen zurück.
Anja sieht zu mir hoch. Sie ist nicht krank wie ihr Bruder. Sie schwindet nur dahin, genau wie ich. »Du solltest ihm keine Süßigkeiten versprechen«, sagt sie.
»Ach, Anja«, entgegne ich, ziehe sie in meine Arme und drücke sie so fest ich kann an mich. Ich küsse ihre gesprungenen Lippen. Unser Atem riecht schrecklich, aber das fällt keinem von uns mehr auf.
»Ich möchte nicht sterben, Mama«, sagt sie.
»Wirst du auch nicht, moja duscha. Dafür sorgen wir. «
Meine Seele.
Das ist sie. Sie beide sind meine Seele. Und deshalb stehe ich auf, ziehe mich an und gehe zur Arbeit.
Draußen in der Eiseskälte der Morgendämmerung ziehe ich meinen Schlitten durch die Straßen. In der Bibliothek gehe ich hinunter in den einzigen Lesesaal, der noch geöffnet ist. Öllampen schaffen kleine Inseln des Lichts. Viele der Angestellten sind so krank, dass sie sich nicht mehr rühren können. Daher kümmern sich die, die sich noch bewegen können, um die Bücher und beantworten die Anfragen der Regierung und der Armee. Wir suchen auch Bücher in den ausgebombten Häusern, um so viele wie möglich zu retten. Wenn es nichts zu tun gibt, stehe ich für irgendwelche Lebensmittel Schlange. Heute habe ich Glück: Ich ergattere ein Glas Sauerkraut und eine Ration Brot.
Der Heimweg ist schrecklich. Meine Beine sind schwach, mir ist schwindelig, und ich bekomme kaum noch Luft. Überall liegen Leichen. Ich gehe nicht mal mehr um sie herum. Dazu habe ich keine Kraft.
Auf dem Heimweg greife ich in meine Tasche und hole mein winziges Stück Brot hervor, das ich mir vom Frühstück aufgespart habe. Ich stecke es mir in den Mund und lasse es dort zergehen.
Ich spüre, dass ich taumle. In meinen Ohren rauscht es wieder. In den letzten Wochen habe ich mich daran gewöhnt.
Vor mir sehe ich eine Bank.
Sich hinsetzen. Nur einen Moment die Augen schließen.
Ich bin so müde. Der Hunger ist weg, ich spüre nur noch Erschöpfung. Selbst das Atmen ist anstrengend.
Und dann sehe ich, wie durch ein Wunder, Sascha vor mir auf der Straße. Er sieht genauso aus wie an dem Tag vor Jahren – vor einer Ewigkeit –, als ich ihn zum ersten Mal traf. Er trägt nicht mal einen Mantel und hat lange goldene Locken.
»Sascha«, sage ich und höre, wie mir die Stimme bricht. Ich möchte zu ihm rennen, aber meine Beine gehorchen mir nicht. Stattdessen sinke ich auf die Knie.
Ich spüre ihn im hohen Schnee neben mir, er legt einen Arm um mich. Sein Atem ist warm und riecht nach Kirschen.
Kirschen. Die brachte uns Papa früher immer mit.
Und Honig.
Ich schließe die Augen, sehne mich danach, ihn und seinen süßen Atem zu schmecken.
Ich kann auch den Borschtsch meiner Mutter riechen.
»Steh auf, Vera.«
Zuerst sagt das Saschas tiefe, vertraute Stimme, dann ist es meine. Sie schreit es.
»Steh auf, Vera!«
Ich bin allein. Niemand ist bei mir, ich rieche nicht den kirsch- und honigsüßen Atem meines Liebsten. Nur ich bin hier, ich knie im tiefen Schnee und erfriere langsam.
Leos Kichern fällt mir ein, Anjas ernster Blick und Saschas Kuss.
Quälend langsam mühe ich mich wieder auf die Beine.
Ich brauche Stunden, um nach Hause zu gelangen, obwohl es nicht weit ist. Als ich schließlich dort ankomme und in die relative Wärme der Wohnung stolpere, falle ich wieder auf die Knie.
Anja ist da. Sie schlingt einen Arm um mich und hält mich fest.
Ich habe keine Ahnung, wie lange wir dasitzen und uns aneinander festhalten. Wahrscheinlich bis uns die Kälte in der Wohnung ins Bett treibt.
Am Abend, nach einem Essen aus warmem Sauerkraut und einer gekochten Kartoffel – einfach himmlisch – sitzen wir an dem kleinen Ofen.
»Erzähl uns eine Geschichte, Mama«, bittet Anja. »Willst du nicht auch eine Geschichte hören, Leo?«
Ich nehme Leo in meine Arme und blicke hinunter auf sein bleiches Gesicht, das im Licht des Feuers wunderschön ist. Ich möchte ihm eine Geschichte erzählen, ein Märchen, von dem er schön träumt, doch ich habe einen Kloß im Hals, und meine Lippen sind so rissig, dass es weh tut zu sprechen. Daher halte ich meine Kinder nur im Arm, bis uns Kälte und Stille einschlafen lassen.
Irgendwann denkt man, es könnte nicht noch schlimmer werden. Aber es kann. Und es wird.
Es ist der kälteste Winter in Leningrad seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die Rationen werden immer weiter gekürzt. Seite für Seite verbrenne ich Vaters geliebte Bücher,
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