Ein Garten im Winter
Sascha später, als wir keuchend nach Hause stapfen.
Ich möchte mich nur noch hinlegen. Ich bin so hungrig, so müde, so traurig. Mittlerweile ist es mir gleichgültig, ob ich sterbe.
»Ja«, sage ich. Mir ist alles gleich. Ich will nur noch aufhören.
Aber Sascha ist da und treibt mich an. Und als wir nach Hause kommen und unsere Kinder mit uns ins Bett steigen, danke ich Gott, dass mein Mann da ist.
»Nicht aufgeben«, flüstert er mir in dieser Nacht zu. »Ich finde einen Weg, euch hier rauszuholen.«
Ich verspreche es.
Ich will nicht aufgeben, obwohl ich nicht mal weiß, was das heißt.
Am nächsten Morgen küsst er mich auf die Wange, flüstert, dass er mich liebt, und geht.
Ende Dezember stirbt die Stadt einen langsamen Erfrierungstod. Es ist fast immer dunkel. Vögel fallen wie Steine vom Himmel. Zuerst die Krähen, das weiß ich noch. Es ist unvorstellbar kalt. Zwanzig Grad unter null sind nichts Besonderes. Die Straßenbahnen bleiben einfach liegen wie Spielzeuge, die nicht mehr benutzt werden. Die Rohre der Kanalisation platzen.
Überall sieht man jetzt Schlitten. Frauen ziehen sie durch die Straßen, um Dinge nach Hause zu schaffen: Holz aus ausgebrannten Häusern, Eimer mit Wasser von der Newa, alles, was gegessen oder verbrannt werden kann.
Ihr würdet staunen, was man alles essen kann. Es geht das Gerücht, dass die Wurst vom Markt aus Menschenfleisch gemacht ist. Ich gehe nicht mehr zum Markt. Wozu auch? Ich sehe, dass schöne Pelzmäntel und Schmuckstücke für nichts verscherbelt und Ölkuchen aus Sägemehl und dem Kehricht von Lagerhäusern zu Wucherpreisen verkauft werden.
Meine Kinder und ich bewegen uns so wenig wie möglich. Unsere Wohnung ist jetzt immer dunkel – Tageslicht gibt es nur ein paar Minuten, und uns sind nur noch wenige Kerzen geblieben. Unsere kleine Burschuika bedeutet uns jetzt alles. Wärme und Licht. Leben. Wir haben die meisten Möbel in unserer Wohnung verfeuert, aber ein paar sind uns noch geblieben.
Wir drei schlafen nachts dicht aneinandergedrängt und werden morgens nur langsam wach. Wir liegen unter allen Decken, die wir haben, das Bett ist nah an den Ofen gerückt, und doch sind morgens unsere Haare gefroren und unsere Wangen von Raureif überzogen. Leo hat Husten, was mir Sorgen macht. Ich versuche, ihm heißes Wasser einzuflößen, aber er wehrt sich dagegen. Ich verstehe das. Obwohl das Wasser abgekocht ist, schmeckt es noch nach den Leichen, die auf dem zugefrorenen Fluss liegen.
Ich stehe in der Kälte auf und mühe mich ab, bis ich ein Stuhlbein abgebrochen oder eine Schublade zu Kleinholz verarbeitet habe, um den Ofen anfeuern zu können. Ich habe ein ständiges Klingeln in den Ohren und oft ist mir so schwindelig, dass ich beim kleinsten Schritt zu Boden stürze. Ich weiß, dass ich nur noch aus Haut und Knochen bestehe. Trotzdem lächle ich, wenn ich meine Kinder wach küsse.
Anja stöhnt, wenn ich sie berühre. Aber das ist immer noch besser als Leo, der einfach nur daliegt.
Ich schüttle ihn und rufe laut seinen Namen. Wenn er die Augen aufschlägt, sinke ich auf die Knie. »Dummer Junge«, sage ich und wische mir die Tränen ab. Weil mir das Blut in den Ohren rauscht und mein Herz so laut hämmert, kann ich nichts hören.
Ich würde alles darum geben, ihn sagen zu hören, dass er Hunger hat.
Ich mache für jeden von uns eine Tasse heißes Wasser mit Hefe. Das hat zwar keinerlei Nährwert, füllt uns aber die Bäuche. Vorsichtig nehme ich ein Stück festes Schwarzbrot – das Letzte unserer Wochenration – und schneide es in drei Teile. Am liebsten würde ich alles ihnen geben, aber ich weiß, ohne mich sind sie verloren, also muss ich auch etwas essen.
Wir schneiden unser Drittel in winzige Stücke und essen diese so langsam wie möglich. Ich stecke die Hälfte meines Anteils für später in meine Tasche. Dann stehe ich auf und ziehe all meine Kleider an.
Meine Kinder liegen eng aneinandergeschmiegt im Bett. Selbst vom anderen Ende des Zimmers kann ich sehen, wie dürr sie sind. Als ich Leo das letzte Mal badete, bestand er nur noch aus Haut und Knochen.
Ich gehe zu ihnen und setze mich aufs Bett. Ich berühre Leo an der Wange und ziehe ihm die Strickmütze über die Ohren.
»Geh nicht, Mama«, bittet er.
»Ich muss.«
Dieser Wortwechsel wiederholt sich jeden Morgen, und, offen gestanden, bieten die Kinder nur noch wenig Widerstand auf. »Ich suche uns ein paar Süßigkeiten, würde euch das gefallen?«
»Süßigkeiten«,
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