Ein Garten im Winter
über sie, küsse ihre kalte, viel zu kalte Wange und flüstere ihr ein Abschiedswort zu.
Dann ist es Zeit.
Sascha und ich packen uns warm ein. Ich ziehe alles an, was ich habe: vier Paar Socken, die zu großen Walenki meiner Mutter, Hosen, Kleider, Pullover. Ich passe kaum noch in meinen Mantel, und als ich meinen Kopf in einen Schal gewickelt habe, sehe ich unförmig aus wie ein kleines, dick eingepacktes Kind.
Hinaus geht’s in den kalten, trüben Tag. Hier und da werfen die Straßenlaternen ihr verschwommenes Licht durch das Schneegestöber. Wir binden Mama auf dem kleinen roten Schlitten fest, der früher für die Kinder zum Spielen gedacht war und jetzt wahrscheinlich unseren kostbarsten Besitz darstellt. Glücklicherweise ist Sascha stark genug, ihn durch den hohen Schnee zu ziehen.
Ich bin schwach. Ich versuche, es vor meinem Mann zu verbergen, aber vergeblich. Jeder Schritt durch den kniehohen Schnee ist eine Qual für mich. Ich kann nur noch keuchen, die Luft brennt mir in der Lunge. Am liebsten würde ich mich hinsetzen, hüte mich aber davor.
Vor uns taumelt ein Betrunkener durch den Schnee, klammert sich dann an eine Laterne und beugt sich keuchend vornüber.
Wir gehen einfach an ihm vorbei. So weit ist es mittlerweile mit uns gekommen. Als ich mich, ebenfalls schwer atmend, nach ihm umsehe, liegt er bereits im Schnee. Ich weiß, wenn wir zurückkommen, werden wir seine blau gefrorene Leiche sehen …
»Schau nicht hin«, sagt Sascha.
»Ich sehe es trotzdem«, erwidere ich und stapfe weiter. Natürlich sehe ich es trotzdem. Es geht das Gerücht, dass mittlerweile dreitausend Menschen pro Tag sterben, meist alte Männer und kleine Kinder. Wir Frauen sind offenbar zäher.
Glücklicherweise ist Sascha in der Armee, daher müssen wir nur ein paar Stunden anstehen, um einen Totenschein zu bekommen. Zwar verlieren wir Mamas Lebensmittelration, aber ihren Tod zu verschweigen ist gefährlicher, als Hunger zu leiden.
Als wir die Wärme unserer Schlange verlassen, bin ich zu Tode erschöpft. Nagender Hunger hat mich befallen, und mir ist so schwindelig, dass ich ab und zu ohne jeglichen Grund weine. Die Tränen gefrieren sofort auf meinen Wangen.
Auf dem Friedhof gibt es Laternen, obwohl ich es lieber dunkel hätte. Der fallende Schnee verbirgt die Leichen, hüllt sie in eine weiße Decke. Dennoch ist offensichtlich, dass sie wie Feuerholz an den Toren des Friedhofs gestapelt werden.
Da der Boden gefroren ist, können sie nicht beerdigt werden. Das hätte ich wissen müssen. Doch vor lauter Hunger kann ich nicht mehr klar denken und bin langsam und dumm geworden.
Sascha sieht mich an. Ich kann seinen traurigen Blick nicht ertragen. Am liebsten würde ich einfach aufgeben, mich in den Schnee sinken lassen und mich um nichts mehr kümmern.
»Ich kann sie nicht hierlassen«, sage ich stattdessen. Es sind so viele Leichen, dass ich sie nicht mal zählen kann. Aber ich kann sie auch nicht wieder mit nach Hause nehmen. Viele Nachbarn haben das einfach gemacht, sie haben einen Platz für die Toten in ihrer Wohnung eingerichtet, doch das bringe ich nicht über mich.
Sascha nickt und geht weiter, zieht den Schlitten um die Schneehaufen herum, auf den dunklen stillen Friedhof.
Wir halten uns bei den Händen. Nur so wissen wir sicher, wo der andere ist. Wir finden eine freie Stelle unter einem Baum, die nur dünn mit Schnee und Raureif bedeckt ist. Ich hoffe, der Baum wird sie schützen. Ich kann es nicht mehr.
Unsere Stimmen verlieren sich im Schneegestöber, als wir laut beschließen, dass wir sie hierlassen werden. Diesen Baum werde ich wiedererkennen, und hier werde ich sie eines Tages wiederfinden, oder zumindest herkommen und mich an sie erinnern. Von nun an werde ich jeden vierzehnten Dezember an sie denken, ganz gleich, wo ich bin. Das ist nicht viel, aber immerhin etwas.
Ich knie mich in den Schnee. Trotz der Handschuhe zittern meine Finger, als ich die Stricke löse und ihren gefrorenen Körper losbinde.
»Verzeih mir, Mama«, flüstere ich. Meine Zähne klappern. Ich taste in der Dunkelheit wie eine Blinde über ihr Gesicht und versuche, mich zu erinnern, wie sie aussieht. »Im Frühling komme ich zurück.«
»Los«, sagt Sascha und hilft mir auf die Beine. Ich weiß, dass man nicht im Schnee knien darf, nicht mal aus diesem Anlass. Denn meine Knie sind schon kalt geworden. Bald würde ich meine Beine nicht mehr spüren.
Wir lassen sie dort. Allein.
»Mehr können wir nicht tun«, bemerkt
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