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Ein Garten im Winter

Ein Garten im Winter

Titel: Ein Garten im Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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sie.
    »Nein, gar nicht. Ich habe einige der Projekte meines Vaters übernommen, und die Belagerung Leningrads gehört dazu. Es ist überaus wichtig, die Erinnerungen der Überlebenden zu sammeln. Die ganze Wahrheit kommt erst seit zwanzig Jahren allmählich ans Licht, weil die Sowjets Geheimnisse zu wahren wussten.«
    »Das stimmt«, bestätigte die Mutter.
    »Wenn Sie also mit zum Zimmer meines Vaters kämen, würde ich Ihre Erzählung gerne für seine Studie aufzeichnen. Es mag den Anschein haben, als hörte er nicht zu, doch ich kann Ihnen versichern, dass er sich glücklich schätzt, endlich Ihre Geschichte zu erfahren. Es wird sein dreiundfünfzigster Augenzeugenbericht sein. Dieses Jahr werde ich noch nach Sankt Petersburg reisen, um mehr Aufzeichnungen sichten zu dürfen. Ihre Geschichte ist wichtig, Mrs Whitson, das versichere ich Ihnen.«
    Sie nickte nur, und Nina fragte sich unwillkürlich, was sie wohl dachte, nun, da ihre Geschichte sich langsam dem Ende näherte.
    »Folgen Sie mir, bitte«, sagte Maxim. Er drehte sich um und führte sie einen hell erleuchteten Gang hinunter, vorbei an gebückten, alten Frauen mit Gehgestellen und zusammengeschrumpften, alten Männern in Rollstühlen, bis zu einem Zimmer am Ende des Flurs.
    In der Mitte des Zimmers standen ein schmales Krankenhausbett und daneben ein paar Stühle, die offensichtlich für den Besuch herbeigeholt worden waren. Im Bett lag ein magerer Mann mit knochigem Gesicht und dürren Armen. Weiße Haarbüschel sprossen aus seinem kahlen, mit Altersflecken übersäten Schädel und seinen faltigen, rosafarbenen Ohren. Seine Nase sah aus wie der Schnabel eines Raubvogels, und seine Lippen waren völlig eingesunken. Als sie eintraten, fing seine rechte Hand an zu zittern, und sein rechter Mundwinkel verzog sich zu einem Lächeln.
    Maxim beugte sich dicht über seinen Vater und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
    Der Mann im Bett sagte etwas, von dem Nina kein Wort verstand.
    »Er sagt, er freut sich sehr, Sie zu sehen, Anja Whitson. Darauf hat er lange Zeit gewartet. Dies ist mein Vater Wassili Adamowitsch, der Sie herzlich willkommen heißt.«
    Die Mutter nickte.
    »Bitte, setzen Sie sich doch«, sagte Maxim und wies auf die Stühle. Auf einem Tisch am Fenster standen ein Samowar und mehrere Teller mit Piroggen, Strudel und Käsecrackern.
    Wassili sagte etwas. Seine Stimme klang wie das Rascheln von trockenem Laub.
    Maxim hörte zu und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Papa. Das verstehe ich nicht. Er sagte etwas über den Regen, glaube ich, aber sicher bin ich mir nicht. Ich werde Ihre Geschichte aufnehmen, Mrs Whitson. Anja – darf ich Sie Anja nennen? Sind Sie einverstanden, dass ich sie aufzeichne?«
    Die Mutter starrte auf den schimmernden Kupfersamowar und die Teegläser in silbernen Haltern. »Da« , antwortete sie leise und wedelte abschätzig mit der Hand.
    Erst jetzt fiel Nina auf, dass sie als Einzige noch stand. Sie ging zum Stuhl neben Merediths und setzte sich.
    Einen kurzen Augenblick senkte sich vollkommene Stille über das Zimmer. Man hörte nur noch, wie der Regen aufs Dach prasselte.
    Ihre Mutter holte erst langsam und tief Luft und atmete wieder aus. »Ich habe diese Geschichte so lange nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise erzählt, dass ich jetzt nicht genau weiß, wie ich anfangen soll. Ich weiß einfach nicht, wo ich ansetzen soll.«
    Maxim drückte auf den Knopf des Aufnahmegeräts. Es klickte laut, dann setzte sich das Band in Bewegung.
    »Ich bin nicht Anja Petrowna Whitson. Diesen Namen habe ich angenommen, als ich eine andere wurde.« Sie holte erneut tief Luft. »Ich bin Veronika Petrowna Marschenko Whitson und komme aus Leningrad. Diese Stadt ist meine Heimat und ein Teil von mir. Vor langer Zeit kannte ich die Straßen wie meine Westentasche. Aber Sie sind nicht an meiner Kindheit interessiert. Nicht, dass ich eine lange Kindheit gehabt hätte – rückblickend betrachtet. Erwachsen wurde ich mit fünfzehn, als man meinen Vater abholte, und als der Krieg endete, war ich alt …
    Aber ich greife vor. Eigentlich angefangen hat es im Juni 1941. Da kam ich von den Feldern vor Leningrad, wo ich Gemüse für den bevorstehenden Winter geerntet hatte …«
    Nina schloss die Augen, lehnte sich zurück und ließ zu den Worten passende Bilder in ihrem Kopf entstehen. Sie hörte Dinge, die sie schon aus dem Märchen kannte, nur dass sie jetzt real waren. Es gab weder einen Schwarzen Ritter noch Prinzen oder Kobolde. Es gab

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